Unbewusste Phantasien begleiten uns

Heiß,_Heiß,_Heiß

„Kinder entstehen durch Essen“, phantasieren kleine Kinder. Diese Phantasie entsteht oft schon, bevor die Kinder sie in Worte fassen können. Auch bei Erwachsenen sind frühkindliche Phantasien vorhanden. Kleine Babys spüren, was in ihrem Körper passiert und entwickeln darauf hin wahrscheinlich Phantasien. Diese Phantasien entstehen aus der Wahrnehmung, aus dem Fühlen (englisch: Sensation) heraus. Sie sind wahrscheinlich schon da, bevor überhaupt Phantasien in Bildern vorhanden sind.

Psychoanalytiker sprechen bei der Entwicklung der Phantasien von einer „genetischen Kontinuität“. Ähnlich wie das Kind seine motorischen Fähigkeiten, sein logisches Denken, seine Vorstellungskraft, die Sprache und seine „manipulativen Fähigkeiten“ entwickelt, so entwickeln sich auch die Phantasien kontinuierlich. Die Phantasien verändern sich besonders während der Entwicklungskrisen. Das Laufenlernen ist ebenso eine Entwicklungskrise wie das Sprechenlernen.

Während Kinder zunächst alles mit dem Mund erkunden, achten sie auf Formen, Geschmack, Konsistenz usw. Die Finger ersetzen späterhin den Mund in seiner Funktion: Wir betasten die Dinge und bekommen eine genaue Vorstellung davon. Sobald das Sehen die Führung übernimmt, spielen Bilder in unserer Phantasie eine große Rolle. (Interessant wäre es hier einmal, die unbewussten Phantasien Blinder mit denen von Sehenden abzugleichen.)

Ständige Veränderung
Die Welt der Phantasien verändert sich ständig. Aus „unreifen“ Phantasien werden mit der Zeit zum Teil reifere, realitätsnähere Phantasien. Die Phantasien verändern sich auch mit dem Alter: Phantasien über Wechseljahrsbeschwerden unterscheiden sich von den Phantasien über die erste Menstruation.
Zum Teil bleiben unbewusste Phantasien jedoch auch in ihrer ursprünglichen Form bestehen. Diese Phantasien sind so, wie sie in der Babyzeit waren. Unsere Träume und die Faszination an Filmen zeigen uns das. Ein klassisches Beispiel ist die Phantasie vom „Alien, der aus dem Bauch schlüpft“, wie im Film „Alien“ dargestellt.

Unbewusste Phantasien sind unsere ständigen Begleiter

Auch der Erwachsene wird von unbewussten Phantasien begleitet. Manche Phantasien können immer noch Phantasien aus der Babyzeit sein, wie aus der Psychoanalyse von Erwachsenen hervorgehen kann. Die Psychoanalytikerin Susan Isaacs (1885-1948) beschreibt all dies in ihrem Beitrag „The Nature and Function of Phantasy“ von 1948 eindrücklich (International Journal of Psycho-Analysis 1948, 29: 73-97, https://www.libraryofsocialscience.com/assets/pdf/Isaacs_Phantasy.PDF). Sie verdeutlicht, dass das Konzept der unbewussten Phantasien gute Fundamente hat.

Der Kontext ist wichtig

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Unbewusste Phantasien können in Psychoanalysen offensichtlich werden, so Isaacs, denn der Psychoanalytiker beachtet die kleinsten Details und den Kontext der Erzählungen seiner Patienten. In der Übertragung zum Analytiker werden alte Ängste, liebevolle frühe Wünsche, aggressive Impulse und eine Fülle von Emotionen geweckt. Manchmal sagt der Patient sowas wie: „Ich habe Angst, hierher zu kommen, ich habe Angst vor Ihnen, aber ich weiß gar nicht, wieso.“ Die Angst wird durch die Übertragung und die unbewussten Phantasien ausgelöst, z.B. wenn der Patient – zunächst unbewusst – befürchtet, der Analytiker könnte sich ihm genauso entziehen, wie die Mutter es damals tat.

Phantasien sind der Hauptinhalt der unbewussten Welt

Sigmund Freud sagte, dass alles, was bewusst wird, einen unbewussten Vorgang als Vorgänger hat. Nur unter bestimmten Umständen würden unbewusste Prozesse bewusst, so Freud (1932, S. 80 in Isaacs Artikel). Was Freud als „Es“ bezeichnete, steht in direktem Kontakt mit den körperlichen Vorgängen.

Aus den körperlichen Vorgängen entstehen Phantasien. Es können Gefühle der Spannung, des Mangels, des Überflusses im Körperinneren herrschen oder äußere Reize können zu Impulsen führen. All dies weckt Phantasien.

Die unbewusste Phantasie ist die mentale Ausdruck des Instinkts

Es gäbe keinen Impuls, keine Drangsal, keine instinktive Antwort, die nicht als unbewusste Phantasie erlebt werde, so Isaacs (S. 80). Die unbewusste Phantasie ist sozusagen eine Art Brücke zwischen den ursprünglichen (körperlichen) Zuständen und den ausgearbeiteten bewussten psychischen Abläufen.

Die unbewusste Phantasie ist die psychische Repräsentation des Instinkts, so Isaacs (S. 80). In der unbewussten Phantasie spiegeln sich Wünsche, aber auch Ängste, Aggressionen und Abwehrvorgänge wider.

Die Phantasien können sehr schnell wechseln – ebenso wie körperliche Befindlichkeiten auch. Daher kann der Patient in einer Psychoanalyse-Stunde ein ziemliches Tempo vorlegen.

Ähnlich wie im Traum können sich die Phantasien blitzschnell, wie in einem Kaleidoskop, verändern. Es dauert oft lange in einer Psychoanalyse, bis Phantasien schließlich in Worte gefasst werden können.

Was geht im Baby vor?

Issacs beschreibt eindrücklich, was ein Baby „denken“ könnte: Es hat Hunger und phantasiert: „Ich möchte an der Brust saugen.“ Wenn der Hunger intensiver wird, könnte das Baby phantasieren: „Ich will die Brust ganz aufessen.“ Das Baby macht die Erfahrung, dass die Brust immer wieder weg geht. Es könnte dann phantasieren: „Ich will die Brust bei mir behalten, also fresse ich sie auf.“ Ist das Baby frustriert, könnte es auch den Impuls haben, die Mutter ins Gesicht zu schlagen. Aggressionen können auch zu diesem Impuls führen: „Ich will die Brust beißen, ja in kleine Stücke zerbeißen.“

Im Gegenzug kann eine Angstphantasie entstehen, die da heißt: „Die Mutter könnte mich beißen.“ Fehlt die Brust/die Mutter, kann das Kind die Wartezeit durch Phantasien überbrücken. Es versucht, sich selbst zu befriedigen, z.B. indem es am Daumen nuckelt. Freud sprach hier von halluzinatorischer Befriedigung. Wenn die Mutter das Baby endlich füttert, könnte das Baby auch eine Art Wiedergutmachung phantasieren: „Ich will die Stücke wieder zusammenführen.“

Widersprüche vereint

Die Phantasien können nacheinander oder gleichzeitig entstehen. Gegensätze können nebeneinander bestehen, wie im Traum. Es ist ähnlich, wie auch gegensätzliche Regungen im Körper gleichzeitig bestehen können: Man kann Wasser lassen müssen und gleichzeitig Durst haben. Die unbewussten Phantasien, die so eng mit dem Körper verbunden sind, spielen bei Hypochondern eine ganz besondere Rolle.

Die Phantasien sind schon lange aktiv, bevor Sprache entsteht. Isaacs erinnert daran, wie Phantasien durch Tanz, Malen, Skulpturen, Formen, Farben oder Musik hervorgerufen können. Worte spielen dabei oft keine Rolle – im Gegenteil: So manche Erfahrung kann gar nicht in Worten ausgedrückt werden.

Große Ängste durch Phantasien

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Phantasien können größte Ängste auslösen, wie sich immer wieder bei Spinnen-Phobien beobachten lässt. Isaacs führt das Beispiel eines Kindes an, das ein Jahr und acht Monate alt ist. Die Mutter trägt einen Schuh, dessen Sohle lose geworden ist. Das Kind schreit fürchterlich und hat riesige Angst vor diesen Schuhen. Die Mutter versteht noch nicht und muss die Schuhe schließlich weglegen. Gute Worte haben so gut wie keinen Einfluss auf unbewusste Phantasien.

Als das Kind zwei Jahre und elf Monate alt ist, also 15 Monate später, fragt das Kind die Mutter: „Wo sind Mamas kaputte Schuhe? Sie können mich auffressen.“ Erst hier wird deutlich, welche Phantasie das Kind gequält hat: Die „Flapp-Sohle“ war so etwas wie ein bedrohlicher Mund.

Wenn kleine Kinder beißen

Isaacs führt ein Beispiel der Psychoanalytikerin Merrell Middlemore (1898-1938) an. Es handelt sich um die Analyse eines Mädchens, das zwei Jahre und neun Monate alt ist. Sie beißt ständig andere Menschen. Sie spielt, sie sei ein beißender Hund, ein Krokodil, ein Löwe, eine Schere oder eine Betonmischer. Ihre unbewussten Phantasien sind ebenso destruktiv wie ihr bewusstes Spiel.

Das Kind hatte von Anfang an die Brust verweigert und immer nur sehr wenig gegessen. Middlemore (1941) versteht es so, dass die furchtbaren Hungerattacken zu den Phantasien von Beißen und Gebissen-Werden geführt haben. Nicht umsonst sprechen wir von „beißendem Hunger“. Isaacs schreibt, dass solche Instinkte tief in uns verankert sind. Die Kinder müssen nicht erst irgendwo gesehen haben, dass jemand sterben kann, wenn man ihn attackiert oder verschlingt. Es ist ein Wissen, das tief in uns ist.

Was wir von uns geben

Viele Kinder (und auch Erwachsene) sind gedanklich stark mit dem Urin und dem Stuhl beschäftigt. Wenn sie zur rechten Zeit urinieren oder defäkieren müssen, ist alles gut. Aber wehe, wenn es zu unpassender Zeit passiert. Dann kann es für alle unangenehm werden. Unbewusste Phantasien der Kinder sind daher oft, dass Urin etwas Schlechtes sein kann.

Kinder können unbewusst phantasieren, dass sie ihre Mutter im Urin ersäufen oder aber dass die Mutter im Urin verbrennt. Denn Urin hat auch eine „beißende, heiße“ Qualität, vor allem in Zeiten der Krankheit. In Zeiten, in denen es dem Kind gut geht, in denen es sich wohl fühlt und in denen es die „Gutheit“ seiner Organe spürt, möchte es der Mutter seine Liebe zeigen. Urin und Faeces sind dann „Instrumente der Potenz und Liebe“ so Isaacs. Urin und Faeces können also gut oder böse sein.

„Nur Phantasien“

Oft sagen wir: „Das sind doch nur Phantasien.“ Doch es sind eben nicht „nur“ Phantasien. Es sind Phantasien, die unser Leben bestimmen, uns oft verzweifeln lassen, zu Krieg oder Frieden führen. „Ich weiß, dass ich hier keine Angst haben muss, dass ich nicht wirklich zur Toilette muss, dass ich mich nicht übergeben muss, dass ich den anderen nicht angreifen will – und doch ist es da“, sagt so mancher Patient. Hier sind meistens unbewusste Phantasien beteiligt; sobald sie in der Analyse verstanden („gedeutet“) werden, können die verschiedensten Probleme nachlassen.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 19.3.2016
Aktualisiert am 11.4.2023

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