Hypochondrie und die Beziehung zum eigenen Körper

Unser Körper ist auf eine Art unsere nächste Bezugsperson. Er ist „sprachlos“, wenn man unter Sprache nur „Worte“ versteht. Er spricht jedoch zu uns, indem er uns zeigt, wie es ihm geht. Wir haben eine enge Beziehung zu unserem Körper. Er zeigt, was mit ihm los ist, aber wir können nicht direkt mit ihm sprechen. Wir können ihm höchstens gut zureden oder ihn verfluchen. Wenn wir uns unsere früheste Baby-Zeit vorstellen, waren wir es, die wir noch nicht sprechen konnten. Wir konnten nur durch Schreiben und Körperzeichen zeigen, wie es uns geht. Wir waren darauf angewiesen, dass unsere Mutter uns gut versteht.
Hypochondrie, also die Angst vor Krankheiten, kann sehr quälend sein. Wir misstrauen dem eigenen Körper. Aus unserem Herzschmerz wird in der Phantasie ein Infarkt, aus unserem Muttermal ein Hautkrebs. Je älter wir werden, desto schlimmer kann unsere Angst werden, denn ein höheres Lebensalter erhöht die Gefahr, tatsächlich solche Krankheiten zu entwickeln. Die Hypochondrie ist auch ein Leiden, das uns mit den Themen Ohnmacht, Trennung und Tod konfrontiert.
Wie unter einer Lupe: ganz nah, fast unaushaltbar
Wenn wir hypochondrisch sind, dann geht es uns wie nachts um halb drei: Alles erscheint uns viel größer und schlimmer als es ist. Kleinste Körpersignale wecken die Phantasie und machen aus allem etwas Schlimmes – häufig denken wir an Krebs, also an etwas „Böses“. Viele Betroffene haben als kleine Kinder medizinische Behandlungen über sich ergehen lassen müssen. Für Babys und kleine Kinder sind medizinische Behandlungen besonders mit unverständlicher Ohnmacht und Qual verbunden. Wenn wir als Erwachsene wieder körperlich leiden, erinnert uns dies möglicherweise unbewusst an unsere frühkindliche Zeit, in der wir dem Tod vielleicht schon einmal nahe waren.
Wenn wir schlafen und im Schlaf unseren Körper spüren, dann haben wir ebenfalls starke Phantasien und Traumgedanken. Zum Beispiel können wir von einer Überflutung träumen. Wenn wir aufwachen, bemerken wir, dass unsere Blase voll ist. Wir haben unsere volle Blase wahrgenommen, doch weil wir schliefen, galten die Wahrnehmungsgesetze des Schlafes und des Traums – wir träumten von der Katastrophe der Überflutung.
Eine schwache Konstitution verstärkt die Hypochondrie
Viele hypochondrische Menschen sind tatsächlich in einer körperlich schlechten Verfassung. Manche leiden an einem geschwächten Gleichgewichtssystem, sodass sie rasch Schwindel empfinden. Dieser hängst dann oft mit der Angst zusammen, ohnmächtig zu werden. Wenn wir unser Gleichgewichtssystem aber durch Muskel- und Gleichgewichtstraining stärken, fühlen wir uns kräftiger. Schwindel und die Ängste tauchen seltener auf. Unter Umständen kann sich so auch eine Agoraphobie (Angst vor freien Plätzen) verbessern.
Bei der Hypochondrie ist die Kommunikation zwischen dem „sprechenden Ich“ und dem „averbalen Körper“ erschwert:
Traditionelles Yoga kann bei Hypochondrie sehr helfen. Durch regelmäßige Atemübungen können wir unseren Körper in eine bessere Verfassung bringen. Wir fühlen uns generell gestärkt und lernen uns besser kennen.
Sage mir, welche Beziehung Du zu Deinem Körper hast und ich sage Dir, wie die Beziehung zu Deiner Mutter und Deinem Vater war.
Die Beziehung zur Mutter bestimmt die Beziehung zum Körper mit
Welches Verhältnis wir zu Mutter und Vater in unserer frühesten Kindheit hatten, spiegelt sich auch im Verhältnis zu unserem Körper wider. Beispielsweise haben Mütter von Schreibabys das Gefühl, sie könnten ihr Baby gar nicht verstehen und auch nicht beruhigen. Ähnlich fühlen wir uns, wenn unser Körper beginnt, mit Symptomen zu „schreien“: Wir können ihn scheinbar kaum verstehen, kaum richtig interpretieren und auch nur schwer beruhigen.
Psychotherapeuten, die mit Müttern und Säuglingen arbeiten, finden jedoch häufig eine Herangehensweise an das „Schreibaby“.
„Das Baby schrie so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr hören konnte“, sagt eine Psychoanalytikerin. Dennoch gelang es ihr, zum Baby zu sprechen. Sie gab eine psychoanalytische Deutung – sie erklärte dem Baby, warum es so schreit und tatsächlich konnte es sich beruhigen.
Schulmedizin macht Angst und beruhigt zugleich

Unser schulmedizinisches System kann Hypochondrien verstärken. Da wir in unserem System meistens nur auf einzelne Organe schauen. Der Arzt findet eben nichts. Ein traditionell chinesischer Mediziner oder ein ayurvedischer Arzt hingegen würde hingegen eine Idee davon haben, was aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Andererseits kann die Schulmedizin uns auch beruhigen: Das unauffällige EKG, MRT- oder Röntgenbild können uns für eine Weile genauso die Angst nehmen wie der Ausdruck unauffälliger Laborwerte.
Was hilft bei Hypochondrie?
Aus meiner Sicht hilft es am meisten, sich gut mit seinem Körper zu beschäftigen und das Stillwerden zu erlernen. Routinen können dabei unterstützen. Wer täglich früh am Morgen eine halbe Stunde Yoga macht, kann meditativ durch seinen Körper gehen und alles durchchecken. Um den Körper zu kräftigen, sind Yoga-Atemübungen („Pranayama“) und tägliche Bewegung gut. Schon der Gang zum Bäcker, eine Runde mit dem Rad oder ein paar Bahnen Schwimmen können enorm stärken, wenn man es jeden Tag macht.
So, wie die Mutter eines Schreibabys in einer Therapie ihr Baby kennenlernen kann, so kann bei der Hypochondrie eine Psychotherapie dabei helfen, sich selbst und seinen Körper besser kennenzulernen.
Körperliche Symptome können mithilfe einer Psychotherapie leichter eingeordnet werden oder sie beunruhigen nicht mehr so sehr. Ruhige Tage wie z.B. Sonn- und Feiertage sind für Hypochonder oft schwer erträglich, weil Ruhe und Einsamkeit zu quälenden Gefühlen führen können, die sich auch im Körper und in den Gedanken zeigen.
Der Gang in die Notaufnahme erleichtert so manchen Hypochonder – nicht nur, weil er auf Bildern sieht, dass „alles in Ordnung“ ist, sondern auch, weil der Kontakt zum Pflegepersonal und zu den Ärzten ein Weg aus der Einsamkeit ist.
Manchmal ist das, was uns wirklich fehlt, ein emotionaler Kontakt. Vielleicht hilft der kurze Rückzug in die Ruhe, ein anderes Mal erleichtert uns ein sinnvolles Gespräch. Auch Wärme ist oftmals erleichternd – sich eine Wärmflasche auf den Bauch zu legen, kann sehr beruhigend sein. Meine Erfahrung ist auch, dass bestimmte Körperhaltungen im Yoga die Beschwerden lindern können oder aber sie lindern zumindest die schwere Sorge um die Beschwerden.
Muss ich sterben?
Letzten Endes geht es bei der Angst um den Körper um die Angst vor dem Sterben. Wer es im Leben sehr schwer hat, der lebt nicht immer gerne. Sigmund Freuds „Todestrieb“ ist da manchmal spürbar. Gleichzeitig meldet sich die Gegenkraft, also der Lebenstrieb. So entstehen innere Kämpfe. Da ist die Angst, alleine oder zu früh sterben zu müssen, andererseits die Sehnsucht nach (Todes-)Ruhe.
Gleichzeitig besteht die Angst, in die Fänge unseres Gesundheitssystems zu geraten – an Ärzte, die keine Geduld haben und nicht verstehen, an Ärzte, die etwas übersehen.
Man möchte nicht in einem Krankenhaus „ans Bett gefesselt“ sein oder der Apparatemedizin ausgeliefert werden. Hier spiegelt sich der Kampf um die Dankbarkeit um unser Gesundheitssystem und das Verfluchen dieses Systems wider. Was soll man tun, wie soll man sich entscheiden, während man an körperlichen Beschwerden leidet?
Schuld, Selbstbestrafung und Aggression
Manchen Menschen hilft es, sich mit den Themen „Schuld“ und „Selbstbestrafung“ auseinanderzusetzen. Manchmal sind körperliche Symptome wie eine Selbstbestrafung – solange sie da sind, muss man keine Schuld spüren. Als „Opfer“ oder als „kranker Mensch“ ist man „der/die Arme“. Vielleicht kommt sogar ein „sekundärer Krankheitsgewinn“ hinzu.
Solche Erklärungen werden in einer Psychotherapie häufig hinzugezogen, jedoch erscheinen sie mir nicht immer hilfreich. Eher glaube ich, dass sich sehr frühe Körper- und Beziehungserfahrungen in den Körperbeschwerden und den hypochondrischen Ängsten zeigen. Mitgefühl mit sich selbst und ein Gespür für die eigene Not und die daraus erwachsenen Aggressionen können helfen, den hypochondrischen Zustand auszuhalten und zu überstehen.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht im Oktober 2012.
Aktualisiert am 25.3.2023
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