Wenn Beruhigungsversuche beunruhigen

Manchmal haben wir ein besonderes Problem: Wir können uns nicht beruhigen lassen. Die Beruhigungsversuche der anderen beunruhigen uns nur noch mehr. Das kann an unseren Kindheitserfahrungen liegen: Wenn die Menschen, die uns eigentlich beschützen und beruhigen sollten, selbst zur Gefahr wurden, dann haben wir die Orientierung verloren. Wenn wir Gewalt von unseren Eltern erfuhren, wurde es psychisch kompliziert: Die Erwachsenen waren gleichzeitig Misshandler und Tröster. Das Gefühl von Gefahr brennt sich ein. Wenn ein Kind sagt: „Ich höre ein Geräusch“ und die Eltern antworten ihm: „Quatsch, da ist nichts“, dann bekommt es den Eindruck, dass seine Wahrnehmungen es täuschen. Und dieser Eindruck macht Angst. Das Gedicht „Der Erlkönig“ von Goethe handelt davon.
Auf Youtube gibt es Videos, auf denen akustische Signale in Frequenzen präsentiert werden, die Kinder noch hören können, Erwachsene aber aufgrund des Alterungsprozesses des Hörsinns nicht mehr. Es kann sehr interessant sein, mit einem Kind zusammen solch ein Video einmal anzuschauen.

Hinschauen, hinhören, verstehen. Wenn Eltern selbst zu verunsichert sind, um mit dem Kind zusammen die Angst zu erforschen, dann fühlen sich sowohl die Eltern als auch das Kind verlassen. Die Ängste der Kinder rütteln an denen der Erwachsenen: Es geht um Sterben und Tod, um Geldsorgen, Aggressionen und sexuelle Fragen. Wenn sich die Eltern ihren Ängsten stellen und davon erzählen können, wird sichtbar, dass Angst nur allzu menschlich ist. Damit kommen Kinder gut zurecht. Schwierig wird es, wenn große Unruhe, blinde Panik und Verdrängung vorherrschen. Das Sprechen über die Angst, das Nachdenken darüber und das Erforschen wirkt hingegen eher beruhigend.

Auch Eltern sind oft schwach – das gehört zum Leben. Zu Problemen kommt es erst dann, wenn eigene Schwächen verleugnet werden.

Das kann die Kinder schwer beunruhigen. Ein Beispiel: Der Vater trinkt und das Kind bemerkt: „Mein Vater hat ein Alkoholproblem.“ Die Mutter sagt: „Ach Quatsch, alle Männer trinken gerne abends mal ein Bier.“ Dann ist das Kind verwirrt und orientierungslos. Es erlebt: Wenn meine Eltern versuchen, mich zu beruhigen, dann steckt der Wurm drin. Echte Beruhigung sähe ansatzweise so aus: „Was Du wahrnimmst, ist wahr. Ich weiß auch noch nicht, was zu tun ist, aber ich bin dabei, nach Hilfe zu suchen.“

Sehr schwer haben es auch Kinder von Eltern mit extrem widersprüchlichem Verhalten. Ein Beispiel: Eine Mutter liebt ihr Kind und kann es einerseits beruhigen. Andererseits geht von ihr immer wieder fürchterliche Gewalt aus. Die Mutter ist innerlich zerbrochen. Sie löst viele Ängste im Kind aus. Die Beziehung zur Mutter schadet dem Kind immer wieder. So merkt das Kind irgendwann: „Die Person, bei der ich Schutz suche, die eigene Mutter, ist die Person, von der Gefahr ausgeht.“ Solch einen furchtbaren Widerspruch erlebt so manches Kind. Sehr häufig reagieren diese Kinder auch als Erwachsene noch mit gemischten Gefühlen auf Beruhigungsversuche. Manche versuchen, sich mit Alkohol zu beruhigen. Und da haben wir dann dasselbe Phänomen: Das, was uns einerseits beruhigen kann, ist gleichzeitig das, was uns vernebelt und was uns schadet.

„Ich bin doch bei dir, Kind“, sagt die Mutter beruhigend.
„Eben das ist das Problem“, denkt das Kind.

Die Erfahrung, ernst genommen zu werden, heilt

Die Erfahrung, ernst genommen zu werden, müssen die Betroffenen in neuen Beziehungen oder in einer Psychotherapie oder Psychoanalyse erst einmal machen, bevor Beruhigungsversuche hilfreich sein können. Sonst quälen die Fragen zu sehr: „Was ist hier faul? Wo ist die Wahrheit? Wann kommt das böse Ende?“ Sind wir frühtraumatisiert und ein anderer versucht uns zu beruhigen, haben wir manchmal das Gefühl, dass nun erst recht ein Grund zur Sorge besteht. Das ist uns vielleicht gar nicht bewusst. Wir spüren einfach, dass es uns noch schlechter geht, wenn jemand versucht, uns zu beruhigen.

„Wenn beim Kinderarzt viele Clownsbilder an der Wand hingen, dachte ich immer: Bei dem muss es besonders schlimm sein“, sagt ein erwachsen gewordenes Kind.

Wir verlieren diesen Argwohn nur durch jahrelange Arbeit, z.B. in einer Psychoanalyse. Wenn der See der Angst da ist, dann wirkt alles, was in diesen See hineinfällt, ebenfalls beunruhigend. Jeder beruhigende Satz, der gesprochen wird, fällt in diesen See der Angst. Oft erst, wenn dieses Grundgefühl der Angst und des Misstrauens gelindert ist, können beruhigende Sätze wieder greifen. Doch auch überraschende Sätze, Melodien oder Bilder, können plötzlich beruhigen, wenn unser „Nerv“ getroffen wird.

Existenzielle Fragen

Der Psychoanalytiker Wilfred Bion hat sehr schön beschrieben, woher tiefe Angst in uns rühren kann – es geht um existenzielle Fragen, die jeden betreffen. Wohl jeder kennt abgrundtiefe Angst, doch wenn die Beziehung zur Mutter sehr bedrohlich war, erscheint es manchmal fast unmöglich, mit Unsicherheit und Nicht-Wissen umzugehen.

Wenn Alpha-Elemente „geboren“ werden

Im Blog-Beitrag „Was ist Bion’s „O“?“ zitiere ich Bion aus Grotsteins Buch „A Beam of Intense Darkness“. Ich finde, hiermit trifft Bion genau, worum es geht und wie Beunruhigung zustande kommt:

„O is the source of all anxieties and eternally hovers as the ‚emotional turbulence’“ (Bion, 1965: S. 48, Transformations, Karnac 1984; Grotstein S. 115). „O ist die Quelle aller Ängste und schwebt ewig als ‚emotionale Turbulenz‘ herum.“ … „As soon as O intersects with the subject’s emotional frontier, an alpha-element is born by virtue of the instantaneous activity of alpha-function.“ (Grotstein, S. 92) „Sobald ‚O‘ die Außenwand unserer Emotionswelt berührt, wird ein Alpha-Element geboren, da die Alphafunktion augenblicklich aktiv wird.“ Bions Konzept von „O“ ist aus seinen früheren Ideen entstanden. „O“ kann nur gefunden werden durch Verbannung von „Memory, Desire, and Understanding“ (Erinnerung, Wunsch und Verstehen). 

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 20.1.2013
Aktualisiert am 9.7.2023

3 thoughts on “Wenn Beruhigungsversuche beunruhigen

  1. Jay sagt:

    Ich erinnere mich an eine Szene aus meiner Kindheit.
    Mitte der 80er Jahre, ich, fünf oder sechs Jahre alt, bin mit meinem Vater im Wald.
    Ich soll Fahrradfahren lernen – ohne Stützräder.
    Ich fahre auf meinem Kinderfahrrad im Kreis und mein Vater hält mich hinten,
    am Rahmen des Rades fest, damit ich mich sicher fühle und üben kann.
    Während der Fahrt schaue ich nach hinten. Ich sehe mein Vater steht mehrere
    Meter von mir entfernt und hat einfach losgelassen, ohne etwas zu sagen.
    Ich falle sofort mit dem Fahrrad um.
    Mein Vater will beschwichtigen: „Na siehst du, es geht doch!“
    Ich fühle mich reingelegt. Das merke ich mir.

  2. Christine Seiler sagt:

    Ich finde, dass es beim Beruhigen oft wesentlich ist, dass der „Beruhiger“ selbst ruhig bleibt. Gerade heute habe ich als Erzieherin die Erfahrung bei einem Kind gemacht, dass man gar nicht viel „tun“ muss. Es reicht meistens, dem Kind zu signalisieren, dass man IN RUHE zuhört und die Trauer / Wut / Aufregung in dem Moment einfach akzeptiert.

  3. Solitude sagt:

    Ich kenne nur zu gut, dass mich die Beruhigungsversuche anderer eher wütend machen als mir helfen. Ich habe dann oft das Gefühl das eigentlich etwas vertuscht werden soll.

    Ich bin letzte Woche im Krankenhaus wegen einer schweren Eileiterentzündung auf beiden Seiten operiert worden. Die Schmerzen, die ich deswegen hatte, haben Anfang Januar begonnen und wurden aber in der Zwischenzeit wieder schwächer. Sie waren konstant da. Eine mir selbst in Gedanken oft gestellte Frage war, ob ich mir die Schmerzen etwa nicht nur einbilde. Die dadurch entstandene Verunsicherung hat mich davon abgehalten mich noch intensiver darum zu kümmern als ich es ohnehin schon getan hatte und so kam es erst letzte Woche zu der Operation.

    Ich erinnere mich sehr gut an den Satz meiner Mutter
    „Das bildest du dir nur ein“ wenn ich Schmerzen hatte oder wenn ich etwas erzählte was ein schlechtes Bild auf sie werfen könnte, wie z.B. dass sie mich schlug, obwohl sie eigentlich ihre Kinder nie schlagen wollte und dementsprechend mit ihrem eigenen schlechten Gewissen nicht umgehen konnte. Sie war einfach als alleinerziehende Mama von zwei Kindern überfordert und konnte uns nicht erziehen. Erst als ich bereits 28 Jahre alt war hat sie zum ersten Mal zugegeben „dass ich sie manchmal schon heftig bekommen habe“.

    Ich habe immer gewusst, dass sie lügt. Die Erinnerungen waren zu konkret und zu häufig. Zu offensichtlich war ihre eigene Ablehnung gegen das Schlagen ihrer Kinder. Wir haben oft hinterher zusammen geweint. Trotzdem hat sie oft gesagt, dass ich mir das nur einbilden würde oder es geträumt hätte und auch wenn ich immer dagegen kämpfte und ihr sagte, dass sie lüge, es hat seine Spuren in Form eines tiefen Zweifels in mir hinterlassen. So stark, dass ich mich in dann in Beziehungen wiederfinde in denen meine Grenzen nicht beachtet werde, weil ich sie nicht achte und ich mich bei Konflikten immer frage ob ich mir das nicht nur einbilde, ob ich nicht einfach hysterisch bin und auch ob ich „Nein!“ sagen darf.

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