Ausgeschlossensein ist der größte Schmerz

Einer der größten Schmerzen, die wir erleben können, ist das Ausgeschlossensein. Die ersten Erfahrungen damit haben wir mit unseren Eltern und unseren (auch vielleicht nicht vorhandenen) Geschwistern gemacht: Die Eltern gehörten zusammen und verschlossen – konkret oder auch im übertragenen Sinne – ihre Schlafzimmertür vor uns. Wie kaltherzig oder verständnisvoll sie das taten, hatte Einfluss auf die Art, wie wir das Ausgeschlossensein erleben. Waren wir Einzelkind, konnten wir uns mit niemandem zusammentun. Hatten wir Geschwister, fühlten wir uns vielleicht von ihnen ebenfalls ausgeschlossen. Wir sind gekränkt, aber auch sehr unruhig, denn auch der Tod ist etwas, was uns ausschließt. Stirbt unsere nächste Bezugsperson, fühlen wir uns schwer erschüttert. Wenn wir Krieg und Flucht erleben oder in einer fremdsprachigen Umgebung sind, haben wir oft nur sehr wenig Kraft, uns mit anderen zu verbinden.

Im Leben machen wir immer wieder die Erfahrung des Ausgeschlossenseins. Schon wenn jemand „Nein“ zu uns sagt, wenn jemand ein Geheimnis hat oder für sich sein will, löst das einen „Mikro-Schmerz“ in uns aus. Wir können gut damit umgehen, wenn wir im Leben oft genug Menschen hatten, die uns gut begleiteten und Verständnis für uns hatten, denn dann tragen wir „gute innere Objekte“ in uns. Doch was, wenn wir zu wenig Verständnis erfuhren? Wahrscheinlich erfahren wir im Leben immer „zu wenig“ Verständnis, doch es gibt Ausmaße an „zu wenig“, die unglaublich sind – dazu gehören z.B. Gewalterfahrungen, von denen andere nichts wissen oder über die man mit anderen nicht sprechen kann.

Wut und Angst

Ausgeschlossensein kann extreme Wut auslösen – besonders dann, wenn es uns als Kind besonders schlecht erging oder wenn wir heute in einer sehr problematischen Lage sind. Ausgeschlossensein kann außerdem große Angst auslösen. Wenn wir zur Strafe ins Zimmer eingeschlossen wurden oder eine depressive Mutter hatten, die sich vor uns verschloss, haben wir vielleicht das Gefühl, wir könnten sterben, wenn wir mit anderen nicht in Verbindung sind. Das Ausgeschlossensein kann zu schlimmen Folgen führen, ja zu Kriegen. Bei Dornröschen ist es die 13. Fee, die nicht am Festtisch Platz nehmen darf. Infolge ihrer Kränkung verflucht sie die Prinzessin. Hier wird deutlich, was psychisch mit uns passieren kann, wenn wir uns ausgeschlossen fühlen: Wir können so rachsüchtig und hasserfüllt sein, dass wir dem anderen den Tod an den Hals wünschen. Wir können infolge der großen Wut, Scham und Angst auch Allmachtsphantasien entwickeln.

Ausgeschlossensein heißt ohnmächtig sein.

Aus Ohnmacht wird Allmacht

Allmachtsphantasien entstehen dann, wenn wir uns ohnmächtig fühlen. Das Gefühl ist so unangenehm, dass wir uns gerne in die Phantasie flüchten. Körperlich können wir uns vielleicht sehr stark fühlen. Hier fühlen wir uns dann vielleicht wie im Höhenflug und denken, wir könnten alles schaffen. Dann wieder fallen wir sehr tief, wenn wir merken, dass wir eben nicht allmächtig sind – eine depressive Starre kann die Folge sein. Wir schämen uns dann so sehr, dass wir am liebsten im Erdboden verschwinden würden: „Irgendwas ist an mir, dass ich ausgeschlossen werde“, könnten wir denken.

Manche beginnen aus Angst vor dem Ausgeschlossenwerden mit dem Lügen. Sie erzählen Dinge von sich, die sie in gutem Licht dastehen lassen und glauben, sie würden ausgeschlossen werden, wenn andere sehen könnten, wie sie wirklich sind. Und manchmal ist es ja auch so: Wenn wir für eine Musik- oder Sportgruppe nicht gut genug sind, können wir nicht daran teilhaben. Das ist einerseits besonders hart, andererseits finden wir aber auch so unseren Weg zu Menschen, Gruppen und Arbeitswelten, zu denen wir wirklich dazugehören können und wollen.

Wir haben manchmal so große Angst vor unseren eigenen Schwächen, dass wir sie auch vor uns selbst verstecken möchten. Wir vermeiden es, uns mit unseren Schwächen auseinanderzusetzen. Wenn jemand unsere Schwächen entdeckt, kommt Scham auf und es kann zu einer Art „Scham-Angst“ kommen. Diese Mechanismen sind besonders beim Narzissmus zu finden: Wer sich ungeliebt fühlt, will durch Leistung „dazugehören“ – wenn dann aber klar wird, dass menschliche Qualitäten mehr zählen und die eigene Unbeholfenheit zutage tritt, kommt es zu einem emotionalen Aufruhr. Betroffen sind zum Beispiel Kinder, die immer sehr hohe Ansprüche der Eltern erfüllen mussten und die spürten, dass das emotionale Band nicht stark genug ist, um auch bei Schwäche zu halten.

Der Rückzug aus der realen Welt und das Leben in einer Traumwelt verschlimmert den Mechanismus. Man kann nur langsam versuchen, in kleinen Schritten, wieder am Leben mit anderen teilzuhaben. Es gibt viele Wege aus dem Teufelskreis. Dazu gehört es, die eigenen Schwächen kennenzulernen und sich ihnen anzunähern. Je besser Du Dich selbst mit Deinen Schwächen kennenlernst, desto weniger musst Du sie vor anderen verstecken.

Selbstbeobachtung hilft

Wer seine Schuld- und Schamgefühle bewusst wahrnimmt, der spürt vielleicht, wenn er anfängt, diese durch eine Flucht in innere Traumwelten und „Höhenflüge“ abzuwehren. Auch die Auseinandersetzung mit dem Gefühl des Ausgeschlossenwerdens kann hilfreich sein, um wieder in besseren Kontakt mit sich selbst und anderen zu kommen.

Wer ausgeschlossen ist, der fühlt sich häufig schuldig dafür, dass er nicht dazugehören darf. „Was ist nur falsch mit mir?“, denkt man leicht. Oft ist gar nichts falsch – man war nur nicht passend. Manchmal ist etwas falsch, z.B. ein Körpergeruch oder das Bedürfnis, ständig und viel zu sprechen. Wenn man ehrlich entdecken will, was die anderen belastend finden, kann man mit Fragen und wacher Beobachtung auf die Suche gehen und das „Falsche“ an sich finden und bearbeiten. Auch die Frage, ob man sich die Gesellschaft mit anderen gönnen darf, spielt oft eine Rolle.

„Du hast keine Schuld“, sagt die beste Freundin schulterklopfend. Einerseits hat sie vielleicht recht: Menschen dürfen sich abgrenzen und manchmal wollen Menschen auch für sich sein. Manchmal fällt man durch Prüfungen oder bewirbt sich in einem Betrieb oder Verein und wird abgelehnt.

Es gehört zum Menschsein dazu, ausgeschlossen zu werden und wir können bewusst lernen, damit umzugehen. Wir können uns uns selbst tröstend zuwenden, die anderen ziehen lassen und woanders unser Glück suchen – auch, wenn wir eine Zeitlang glauben, dass es kein „Woanders“ gibt.

Um jeden Preis!

Doch das Ausgeschlossenwerden kann auch anstacheln: „Ich will da unbedingt rein! Koste es, was es wolle!“, ist unsere Reaktion. Das hilft manchmal weiter, wie z.B. die schottische gehörlose Schlagzeugerin Evelyn Glennie in ihrem Video „How to truly listen“ zeigt. Sie wurde als Gehörlose in einer Musikhochschule abgelehnt und konnte dies nicht akzeptieren. Mit guten Argumenten und großem Können wurde sie schließlich doch aufgenommen.

Wir können durch die Haltung „Ich will aber!“ jedoch auch das Gegenteil erfahren: Wenn wir unbedingt irgendwo rein wollen, werden wir aufdringlich und bewirken bei den anderen Abwehr.

Die Reihenfolge einhalten

„Aber die anderen kommen doch rein – wie machen die das?“, denken wir. Manchmal geht es einfach darum, die Reihenfolge einzuhalten. Es gibt Hierarchien. Das kann schon per se wütend machen und auch ängstigen. Wenn ich oft die Erfahrung gemacht habe, dass am Ende des Weges jemand steht, der mir das Durchkommen nicht erlaubt, dann erwarte ich immer wieder, dass die Dinge am Ende doch nicht klappen. Manche Psychoanalytiker diskutieren sogar, dass hier vorgeburtliche Erfahrungen eine Rolle spielen könnten: Wer als Baby die Erfahrung gemacht hat, dass die eigene Geburtsanstrengung nichts brachte, wird vielleicht mit einem Grundgefühl der Vergeblichkeit geboren. Doch vielleicht sind solche Bilder eher symbolisch zu verstehen.

Manchmal müssen wir aushalten, dass wir „von unten“ kommen und auf die Aufnahme durch andere angewiesen sind. Rebellion nutzt oft nichts und verschlimmert die Sache. Die Menschen – besonders auch die Menschen „da oben“ wollen ernstgenommen und geachtet werden. Wenn wir einen Doktortitel haben wollen, können wir nur von unten nach oben kommen und sind auf die Mithilfe der anderen angewiesen.

Wir müssen mit dem Doktorvater und dem Betreuer klarkommen und anerkennen, dass sie eine Stufe höher stehen als wir. Wenn wir aus lauter Angst und Ärger so tun, als wären wir schon oben, kann das für Ärger sorgen und bewirken, dass der Doktorvater oder das Forschungsteam uns loswerden wollen. Wir fühlen uns jedoch oft dann als besonders weit unten stehend, wenn wir ein geringes Selbstwertgefühl haben. Dann verstärken sich die Mechanismen von Unterwerfung und Arroganz – niemand will so weit unten stehen, dass es beschämend wird. Wenn wir lernen, dass wir einen inneren Wert haben, der immer gilt, dann können wir mit den Zurückweisungen und Abweisungen im Leben besser klarkommen.

Der Umgang mit Reihenfolgen, Hierarchien und Autoritäten fällt uns umso schwerer, je schlechter wir als Kinder von unseren Eltern behandelt wurden und je existenzieller wir uns von unserem Ziel abhängig fühlen. Wer Gewalt von seinen Eltern erfahren hat, der konnte sie nicht ernst nehmen. Wer „bildungsferne“, vielleicht alkoholabhängige Eltern hatte, der empfand sie als „dumm“. Schon als Kind war es die Aufgabe, für die Familie zu sorgen und „oben“ zu sein. Wenn wir Eltern hatten, die uns vor dem realen Leben und dem Wettbewerb immer verschonen wollten, können wir uns nur schwer realistisch einschätzen. Auch dann fällt es uns schwer, Ordnungen zu akzeptieren.

Gutes von oben

Es kann uns die Vorstellung fehlen, dass „da oben“ vernünftige Menschen sitzen, die es gut mit uns meinen. Manchmal bleibt uns da nichts anderes übrig, als bewusst Neues auszuprobieren. Zwar kann man Vertrauen nicht herbeizaubern und man kann es sich nicht einreden, aber man kann es denken und vorsichtig einmal schauen, was passiert, wenn man sich auf das Abenteuer „Vertrauen“ einlässt. Nicht zuletzt bleibt uns die Hoffnung. Oft sind wir ausgeschlossen, allein und verletzt. Doch wenn wir offen bleiben und vielleicht sogar sehen, wo wir selbst andere verletzt haben, kann sich vieles verändern. Wir können auch ehrlich unsere eigenen Grenzen anerkennen und auf die Suche nach Neuem gehen, wo wir nicht ausgeschlossen werden.

Jeder Schmerz, den wir im Leben erfahren, ist auch eine Chance, sich weiter zu entwickeln.

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 19.2.2020
Aktualisiert am 13.6.2023

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