Amok

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„Warum, warum?“, fragen sie sich immer wieder. „Können sie das nicht verstehen?“, frage ich mich. „Ist ihnen Hass so fremd? Fühlen sie niemals diesen furchtbaren Drang, alles zu zerstören?“ Sie sind so merkwürdig erstaunt. „Astonished“, das englische Wort dafür klingt viel treffender. Man hört daraus, wie eingefroren die Menschen sind. Doch mich hält nichts mehr. Und noch während ich schieße, denke ich, dass ich sie alle auf eine ganz merkwürdige Weise liebe. Und dass ich nicht will, was ich da tue. Plötzlich, aus dem Tumult, wie aus dem Nichts, ein Brennen. Und noch während ich zusammensinke, denke ich: „Vielleicht bekomme ich es doch noch – ein bisschen Liebe.“ (Gedanken eines Amokläufers. Text & Bild: Dunja Voos)

Amokläufe sind einerseits sehr schwer verstehbar. Andererseits lösen sie in uns auch deswegen so einen Schrecken aus, weil wir vielleicht in unserer hintersten Ecke spüren, dass wir selbst auch zu so etwas fähig wären, wenn uns so viel Unrecht geschähe, dass es nur noch schwer auszuhalten wäre. Der Sozialwissenschaftler Andreas Prokop, Universität Hamburg, hat sich in seiner lesenswerten Dissertation (siehe Linktipp unten) diesem Thema angenähert, sodass es sich besser verstehen lässt.

Verwandte Artikel in diesem Blog:

Linktipp:

Prokop, Andreas (2015):
Gewalt und Mimikry
Destruktive Aspekte der Selbstkontrolle bei amokartiger Gewalt
Dissertation 2015, Universität Hamburg
Kapitel 2: Mörderische Selbstkontrolle, S. 44
https://d-nb.info/1073970418/34

Andreas Prokop zitiert den Psychoanalytiker Otto Fenichel auf S. 44:

„Bis jetzt haben wir gesagt, dass die Abkömmlinge abgelenkter Affekte zur falschen Zeit erscheinen, sich auf die falschen Objekte richten oder eine falsche Qualität erkennen lassen können. Sie können auch durch eine besonders aufwändige Gegenbesetzung aus ihren gesamten psychischen Zusammenhängen isoliert werden.“
Otto Fenichel

Andreas Prokop, S. 47: „Das führt mich zu der These, dass Selbstkontrolle – jedenfalls eine bestimmte Form derselben – insofern problematische Auswirkungen auf das Zusammenleben haben könnte, als sie den sozialen Zusammenhang und -halt schwächt, die Affizierbarkeit im Interaktionengefüge einschränkt und damit auch unsere Fähigkeit, die Perspektive des anderen zu übernehmen, ihn spontan zu beantworten. Wenn wir uns (zu stark) zurücknehmen, kontrollieren, sind wir nicht in Beziehung.“

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 18.6.2016
Aktualisiert am 1.11.2021

One thought on “Amok

  1. Melinas sagt:

    Puh, sowas habe ich mir auch schon öfter gedacht, nach diesen Amokläufen. Ich bin immer jemand der den Motiven auf den Grund gehen will.
    Ziemlich sicher bin ich auch, dass es den Amokläufern um das Geliebtwerden geht und um die Aufmerksamkeit, die man bräuchte um existieren zu können. Und wenn jemand nie wirklich gesehen wird, nie beachtet, vielleicht noch verachtet….dann denke ich versucht man sich noch einmal Gehör zu verschaffen – selbst wenn es das Letzte ist, was man tut.
    Ich habe schon immer das Gefühl – wenn mir die Liebe fehlt werde ich sehr böse, wenn mir der Glaube an einen liebenden Gott (in welcher Form auch immer) abhanden kommt, dann würde ich mich und diese grausame Welt auch zerstören wollen.

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