Von der Angst, nicht sterben zu dürfen
Es gibt Menschen, die haben einen ganz besonderen Horror: Sie werden von der Vorstellung geplagt, nicht sterben zu dürfen und ewig leben zu müssen. Auf meinen Beitrag „Die Angst vor dem ewigen Leben“ erhielt ich damals nur sehr wenige, aber doch tief berührende Reaktionen von Menschen, die zutiefst befürchten, ewig leben zu müssen.
Viele Medizinstudenten kennen das Buch der Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross (1926-2004) „Über den Tod und das Leben danach“ (amazon). Hier beschreibt die Autorin, wie das Leben des Menschen einer Schmetterlingsraupe gleicht. Der Tod sei nichts anderes als das Verlassen des Kokons und die Umwandlung in einen Schmetterling. Für viele Menschen sind solche Vorstellungen tröstlich. Doch Bücher wie diese können manche Menschen in ganz schreckliche Zustände versetzen. Die Vorstellung, nicht sterben zu dürfen, ist für diese Menschen wie ein innerer Terror.
Fjodor Dostojewski schreibt in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ (Anaconda-Verlag, 2010, S. 483): „Einen lebendigen Gott können sie sich nicht vorstellen, ohne ihn zu hassen; daher fordern sie, Gott soll kein Leben haben, sondern sich und seine ganze Schöpfung vernichten. Und sie werden bis in alle Ewigkeit im Feuer ihres Zornes brennen und nach Tod und Nichtsein dürsten. Aber sie werden den Tod nicht erlangen.“
Hier ist sehr schön beschrieben, wie groß der Drang eines Menschen sein kann, alles zu vernichten. Und auch hier spielt die Vorstellung eine Rolle, selbst nicht sterben zu können mit dem Fazit: „Wenn ich selbst schon nicht sterben kann, dann soll es eben gar kein Leben mehr geben.“
Die Medien sind voll von Erzählungen über Nahtoderfahrungen. Die meisten dieser Berichte sind „positiv“, das heißt, die Sterbenden hatten aus ihrer Sicht wunderschöne Erlebnisse – das zu lesen ist für die Menschen jedoch, die Angst haben, nicht sterben zu können, höchst beunruhigend. Daneben gibt es auch Berichte von Menschen mit schrecklichen Nahtoderfahrungen, aber wie auch immer: Am Ende heißt es, soll es kein Ende geben.
Wirklich verzweifelt ist der, der alle Religionen durchsucht hat und keine Beruhigung finden konnte.
Dann sind da die buddhistischen Bewegungen zur Zeit. Im Yoga-Kurs hört man vielleicht, dass es so etwas wie ein „unsterbliches Selbst“ in einem gebe. Und wieder ist der Horror in demjenigen erwacht, der befürchtet, nicht sterben zu dürfen.
Keine Gleichgesinnten?
Die Betroffenen leiden sehr, denn es ist wohl eher die „Norm“, dass der Mensch „ewig leben“ will und dass der Mensch gerne lebt. Doch es gibt schwer frühtraumatisierte (oder auch später traumatisierte) Menschen, die können das Leben nicht wirklich schön finden – oder anders gesagt: Sie könnten es vielleicht schöner finden, wenn sie wüssten, dass ihr Leben definitiv einmal ein Ende haben wird.
„Warum sollte die Seele nicht auch sterblich sein?“, las ich bei Jiddu Krishnamurti im Buch „Kann das Leben jemals enden?“ (Washington Talks, 2010, amazon)
Ich denke, diese Angst, nicht sterben zu können, rührt vielleicht aus ganz frühen Erfahrungen. Wenn Babys zum Beispiel bei der Vojta-Therapie gequält werden, befürchten sie vielleicht jedes Mal, sie würden umgebracht werden. Das Leiden ist so groß, dass sie sich – soweit sie das ohne Worte können – vielleicht wünschen, zu sterben. So stelle ich es mir vor, wenn ich die Schreie der Babys höre. Die Mutter oder der Vater, die/der die Therapie durchführt, wirkt ebenfalls wie unbesiegbar. Das Kind ist klein, hilflos, überwältigt und hat weder eine Chance, selbst zu sterben, noch den/die Täter umzubringen.
Gewalterfahrungen wie diese könnten vielleicht zu dieser tiefsitzenden Qual führen – dem Gefühl: „Ich will sterben, aber ich kann nicht. Ich befinde mich in einer ewigen Hölle.“ Doch auch ein wiederholt langes Alleingelassenwerden als Baby oder vorgeburtliche Erfahrungen können möglicherweise zu diesem grausamen Gefühl der „Unsterblichkeit“ führen. Als Kind hat man zudem noch viel Lebensenergie – viele Menschen sagen, dass sie im Alter weniger Angst vor Tod und Sterben haben als als junge Menschen, weil sie die körperliche Endlichkeit deutlicher spüren und weil sie spüren, wie die Energie zu Ende geht.
Es kann wie ein Zwang sein, darüber nachzugrübeln, dass es auch nach dem Tod keine Erlösung, keine Erleichterung gibt.
Suizid scheidet als Lösung aus
Die Betroffenen beneiden manchmal regelrecht jene Menschen, die im Suizid einen möglichen Ausweg sehen. Viele Menschen haben immerhin noch die Vorstellung, dass dann „alles aus“ und die Qual beendet ist. Doch diese Lösung steht den Betroffenen emotional und gedanklich kaum zur Verfügung. Sie müssen sich zu ungeheurer Hoffnung zwingen, dass nach dem Sterben wirklich Ruhe ist.
Und hier kommt vielleicht die Welt der „inneren Objekte“ mit ins Spiel: Die Betroffenen fühlen sich gequält und es ist keine gute innere Stimme oder keine innere Sicherheit da, die besagt, dass es irgendwann Ruhe geben wird. Das „unsterbliche Selbst“ in ihnen ist vielleicht für die Betroffenen mehr zu spüren als ihnen lieb ist.
Vielleicht hilft die Vorstellung, dass der Körper offensichtlich mit der Zeit altert, dass die Zeit sichtbar Spuren hinterlässt und dass die Energie nachlässt. Manche Menschen fühlen sich auch durch körperliches Leid erleichtert, weil sie sich und ihre Vergänglichkeit wieder mehr spüren.
„Wenn Du schläfst, ist auch die Welt nicht mehr.“
Die inneren Qualen gehören zu einem „Ich“, das seine Geschichte hat und das sich durchaus ausschalten lässt, z.B. im Schlaf oder in Narkose. „Doch was ist mit meinen Träumen? Was ist mit Koma-Patienten, die doch alles mitbekommen?“, fragen die Betroffenen ängstlich. Auf vieles lässt sich keine Antwort finden – jede Beschwichtigung beunruhigt noch mehr. Es ist wie beim Hypochonder: Der Arzt sagt: „Es ist alles gut“, doch schon auf dem Bürgersteig angekommen, kommen die nächsten Zweifel hoch.
Die Betroffenen tendieren dann dazu, sich abzulenken, wegzulaufen von diesen quälenden Gefühlen und Gedanken.
Doch auch hier kann es hilfreich sein, nicht wegzulaufen. Wer in einem schnellen Fluss gegen die Strömung ankämpft, erleidet Qualen. Wer sich jedoch mitziehen lässt, kann sich vielleicht zum nächsten Ufer treiben lassen. In sich selbst lässt sich manchmal doch tiefe Beruhigung finden, wenn man nicht länger wegläuft. Es braucht oft Zeit, diesen Weg zu gehen. Psychoanalyse und Yoga können möglicherweise helfen – hier kann man über die Zeit vielleicht erfahren, dass die Innenwelt nicht nur bedrohlich ist, sondern dass sich gerade tief innen so etwas wie Freiheit, Beruhigung und auch eine Art „Nicht-Sein“ finden lässt. Jedenfalls kann man auf die Suche gehen und schauen, ob es für einen selbst nicht doch noch Antworten gibt.
Nicht zu wissen, was kommt, ist leichter zu ertragen, wenn man eine sichere Bindung hat.
Anfang und Ende – wie gut!
Die Vorstellung, dass man geboren wurde, lebt und dann definitv stirbt, bringt vielen Menschen Lebensfreude – so wie es dem Kind gut tut, dass es weiß: Beim Aufstehen liegt noch der ganze Tag vor ihm, doch der Tag hat eine Struktur und abends darf es schlafen gehen. Würde man es am Schlafen hindern, wäre es die Hölle für das Kind. „Ja, aber dann gibt es doch den nächsten Morgen, das ist doch wie Wiedergeburt?“, kann der Gequälte zu bedenken geben. Das quälende Gefühl kehrt immer wieder zurück, egal, welches Gedankenkonstrukt man aufbaut. Denken hilft also größtenteils nicht.
Der Versuch, sich durch Denken zu beruhigen, enfacht die Gedanken immer wieder neu. Das Denken ist wie eine Zündung für den Qual-Motor, der immer wieder anspringt.
Doch vielleicht gelingt es dem Betroffenen, wenigstens zeitweise eine gute innere Stimme in sich zu finden – wie eine gute Mutter, die er vielleicht nie gehabt hat, aber die mit einer wohltuenden Stimme sagen kann: „Ach Spätzchen, quäl‘ Dich doch nicht so. Du darfst sterben, es ist doch gut.“ Vielleicht taucht manchmal diese erlösende Gewissheit auf – selbst, wenn es nur für wenige Minuten ist. Und mit ihr kann auch Lebensfreude kommen.
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One thought on “Von der Angst, nicht sterben zu dürfen”
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Das ist der Grundgedanke des Buddhismus, nicht wahr? Wiedergeburt ist ein Schicksal, dass sich die Auflösung erst im Nirvana erhofft. Menschen, die nicht viel darüber wissen, betrachten Wiedergeburt immer als Hoffnung, als etwas Schönes, dabei ist es ja nach dieser Philosophie dazu da, Karma abzutragen.
Aber – keiner weiß ja, was wirklich nach dem Tod passiert.