
„Da musst Du ja sicher viel lesen und Theorien lernen“, höre ich manchmal, wenn ich sage, dass ich eine Ausbildung zur Psychoanalytikerin bei der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) mache. Doch diese Ausbildung ist in vieler Hinsicht ganz anders als ein Medizin- oder anderes verkopftes Studium. Besonders in Prüfungen – sei es im Vorkolloquium, im Zentralseminar oder im Kolloquium – wird das deutlich.
In der Psychoanalyse-Prüfung stellt der angehende Psychoanalytiker einen seiner Ausbildungsfälle vor. Er referiert über die Analyse, wobei das Erstinterview, das szenische Verstehen, die Beziehung (Übertragungen, Gegenübertragungen), Gefühle, Bedeutungen und Träume besonders wichtig sind.
Worauf kommt es in der Psychoanalyse-Prüfüng an?
Worauf es in einer Psychoanalyse-Prüfung ankommt, zeigt aus meiner Sicht die wunderbare arte-Dokumentation „Dirigenten – jede Bewegung zählt“. Sie erzählt die Geschichte eines jungen Dirigenten, der an einem Wettbewerb teilnimmt und weit hinten landet, obwohl er über Talent, Musikalität, Technik, Wissen und Können verfügt. Er solle es noch einmal in zwei Jahren versuchen, so wird ihm gesagt. Verständnislos wendet er sich ab und beschließt, nie wieder zu kommen.
Subtiles ist spürbar, Verstehen ist oft schwierig
Der Grund für das „Nicht-Bestehen“ dieses Dirigenten ist sehr subtil und wird auch nicht genau benannt, doch beim Zuschauen wird deutlich: Er ist zu streng, er nimmt keinen zugewandten Kontakt mit den Orchestermitgliedern auf, die Orchestermitglieder wenden sich ab und tuscheln miteinander. In seinem Gesicht steht Angst. Vielleicht ist eine schwierige Kindheit der Grund und jetzt steht die Suche nach Anerkennung und Angenommenwerden weit vorne. Er wirkt innerlich gehetzt, verlassen und verzweifelt und überträgt das auf die Orchestermitglieder. Er kann nichts von ihnen aufnehmen, nichts verdauen.
Pauken, Wiederholen, Wiedergeben – so sehen die Prüfungen oft aus, die Mediziner und Psychologen während ihres Studiums kennengelernt haben.
Wenn man fragt: „Worauf kommt es in der Psychoanalyse-Prüfung an?“, könnte man auch fragen: „Worauf kommt es in einer Partnerschaft an? Worauf bei einer Kontaktaufnahme, in der Beziehung zum Kind, zu Freunden, zu Eltern, zu Vorgesetzten und Kollegen?“ Es kommt vielleicht darauf an, dass man als Prüfling selbst ausreichend gute Erfahrungen in haltgebenden Beziehungen gemacht hat, sodass es möglich wird, die Dinge (angenehme wie unangenehme) zuzulassen anstatt sie abzuwehren. Daher ist die Lehranalyse so ein wichtiger Teil dieser Ausbildung.
„Du musst lernen, zu spüren, wann Du loslassen kannst, wann das Orchester von selbst läuft und wann Du wieder eingreifen musst.“ So ähnlich sagte es ein Orchestermusiker zu dem Dirigenten.
Wissen ist einfach
„Wenn ich im Medizinstudium in eine Orthopädieprüfung gehe, dann bestehe ich die Prüfung, wenn ich mein Zeugs gelernt habe und es wiedergeben kann.“ In einer der DPV-Prüfungen funktioniert so etwas nicht. Hier geht es darum, sich zu zeigen und mit der Prüfungsgruppe in Kontakt zu treten.
In der Psychoanalyse-Prüfung kommt es auf die Beziehung an, auf die eigene Persönlichkeit, auf die Stimmung, die Resonanz, die Fähigkeit, sich selbst zu beobachten und sich vertrauensvoll dem hinzugeben, was da ist, auch wenn es „nicht gut“, irritierend, bedrängend, beängstigend, lähmend oder sonstwie problematisch ist.
Auch die Psychoanalyse selbst besteht aus höchst unguten Momenten, aus fast unaushaltbaren Gefühlen, aus Angst und negativen Übertragungen, aus Schuld- und Schamgefühlen, aus dem Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben usw. Wichtig ist es, eben auch dieses Negative darstellen zu können, darüber nachdenken und es bearbeiten zu können. Es kommt darauf an, zu verstehen und darum zu ringen, zu verstehen, was in der Beziehung zum Patienten passiert und davon zu erzählen.
Ist die Angst zu groß, kommt Abwehr ins Spiel. Dann werden die anderen zu Monstern, zu Angreifern oder sie werden abgewertet. Man zieht sich zurück und fühlt sich unverstanden.
„Du musst einfach selbstbewusst auftreten“, riet mir eine Freundin (aus der Werbebranche) vor einer Zwischenprüfung. „Du brauchst eine Strategie“, hörte ich. Und eben darauf kommt es in der Psychoanalyse-Prüfung nicht an. Genau diese Dinge sind vollkommen hinderlich. Es kommt darauf an, das Gegebene fein wahrzunehmen und darauf flexibel zu reagieren und in Kontakt mit sich und den anderen zu bleiben.
„Es kommt mir ein bisschen vor, als müsste man in der Psychoanalyse-Prüfung zeigen, wie man sein Kind stillt, wenn man seinen Fall vorstellt. Und dann sitzen da die ganzen Erfahrenen, die (Schwieger-)mütter und Großeltern und Tanten und beurteilen, ob man es denn richtig macht.“ So eine Prüfung eignet sich auch herrlich zur Analyse der eigenen Familien-Übertragung. Die Zuhörer nehmen mitunter die Gestalt der eigenen Familie an.
Aus dem Miteinander lernen
Psychoanalyse-Prüfungen bei der DPV (Zentralseminare, Kolloquien) finden vor einer Gruppe statt. Dort sitzen (Lehr-)Analytiker und Ausbildungskandidaten. Die Zuhörer kommen mit dem Prüfling ins Gespräch. Wie der Prüfling dies empfindet und wie er darauf reagiert, zeigt viel von dem, wie er „ist“, was er überlebt hat, was er erlebt hat, wie er aufgewachsen sein mag, wie er Beziehungen gestaltet, welche Übertragungen er hat und wie gut er sich selbst kennt.
In der Gruppe zeigt sich viel von dem, was sich zwischen Patient und Ausbildungskandidat abspielt. Wenn die Triangulierung mit der (Prüfungs-)Gruppe schwierig ist, kann dies auch Hinweise auf die Behandlungssituation zwischen Ausbildungskandidat und Patient geben.
Die Gruppe kann empfunden werden wie ein mütterlicher Schoß oder wie eine Bataillon von Angreifern.
Kann so eine Prüfung objektiv sein?
„Aber so eine Prüfung ist doch nicht objektiv! Da braucht es doch Standards, Leitlinien und Orientierungspunkte, sonst wird doch völlig nach Gusto entschieden!“, höre ich manchmal. Dieses Argument kommt oft dann, wenn jemand versucht, die Psychoanalyse-Prüfung mit einer Medizin- oder ähnlichen Prüfung zu vergleichen. Doch die Unterschiede könnten größer nicht sein.
In der Psychoanalyse geht es um Erfahrung, Beziehung, Affekte, Atmosphäre und Persönlichkeit. Und um Kunst.
Ich habe den Eindruck, dass so eine Prüfung trotz fehlender „objektiver“ Kriterien verlässlich ist. Es ist wie mit dem Dirigenten aus dem Film: Würde man ihn vor ein oder zwei andere Orchster stellen, würden die Mitglieder wahrscheinlich wieder ähnlich reagieren. Das Orchester entfernt sich vom Dirigenten, es ist eher ein „genervter Kampf“ als ein entwicklungsförderndes Miteinander.
Was man liebt, geht einem an die Nerven.
Es ist wie in der Schule: Manche Lehrer stehen vor vielen Klassen und es gelingt ihnen immer wieder, Wissen in guter Weise zu vermitteln. Und dann gibt es Lehrer, die die Schulklassen über Jahrzehnte verzweifeln lassen. Auch hier gibt es keine objektiven Kriterien. Es geht um das Menschliche, das sich oft so schwer beschreiben, aber dennoch gut erfassen lässt. Das Messinstrument sind die eigenen Gefühle.
Lasst die Kinder beziehungsfähig werden!
Letzten Endes kommt es immer wieder auf das Menschliche und die Beziehungsfähigkeit an. Ein Hochleistungssportler, der alles gibt, kann am Erfolg zerbrechen, wenn er keine Familie oder keine Menschen hat, zu denen er eine nahe Beziehung hat.
Egal, in welchem Bereich man sich umschaut: „Erfolg“ haben diejenigen, die gute Bindungen kennen – und zum Glück auch diejenigen, die zwar aus schwierigsten Verhältnissen kommen, aber über gute Bindungen dort hinausgefunden haben.
Am Ende des Dirigenten-Films geht ein warmherziger britischer Kollege auf den erfolglosen Prüfling zu – freundlich und offenherzig sagt er: „Ich habe mich sehr gefreut, Dich kennenzulernen. Lass uns in Kontakt bleiben – ich melde mich. Lass uns uns wiedersehen!“ Er umarmt ihn herzlich. Auch er war nicht unter den Erfolgreichen, doch er hatte „Good Vibrations“, die ansteckend waren. Die Umarmung war sehr berührend und der Film endet damit, dass der gescheiterte Prüfling neue Kraft schöpft und hoffnungsvoll sagt: „Ich werde wiederkommen und es wieder versuchen.“ Beziehung ist eben alles.
Melande meint
Die erwähnte arte-Dokumentation (nur noch 5 Tage, bis zum 29.7.2019 zu sehen!!) lässt einen den Unterschied zwischen einer Wahrnehmung auf der Basis von ERLERNTEM „KOPF-WISSEN“ und der tieferen, ganzheitlichen Einschätzungskompetenz erfahrener Psychotherapeuten wirklich wunderbar verstehen/erspüren.
Ich habe mich tlw. in dem jungen Dirigenten wiedererkannt, was mich traurig gemacht hat. Bei meiner Erinnerung an Situationen (z. B. bei einer kleinen Ansprache auf einer Weihnachtsfeier), in denen ich so…..angestrengt (nur bei mir seiend und den Worten, die ich bei der Vorbereitung auswendig gelernt hatte) gesprochen hatte, erkenne ich nachträglich auch, dass die Zuhörer (in dem Film die Orchestermitglieder) NICHT so REAGIERT haben, wie ich es bzw. der junge Dirigent es gewüscht/gebraucht hätte. Das macht mich erst recht traurig.
Ein lieben Sommergruss!
Melande