
„Die Frau ist unter der Geburt“, hört man manchmal noch, wenn auch selten. Eine Hebamme erklärt es so: Die Frau gibt die Kontrolle auf und ergibt sich dem, was da kommt. Die Kräfte der Natur sind gewaltig und Frauen, die es schaffen, sich dem hinzugeben, haben oft eine „leichtere“ Geburt als diejenigen, die gegen alles ankämpfen müssen. Doch wovon hängt es ab, ob wir uns einem Schicksal ergeben, ob wir trauern, schlafen und vertrauen können? (Text & Bild: © Dunja Voos)
Kontrolle aufgeben
„Regression“ heißt in der Psychoanalyse so viel wie: Wieder in eine kindliche Position zurückkehren. Abends, wenn wir schlafen gehen, regredieren wir: Wir nehmen vielleicht eine Embryonalhaltung ein und der Schlaf „überkommt“ uns. Wir schlafen ein, wenn wir uns nicht wehren müssen. Manche Menschen sagen noch: „Mir hat geträumt“ – damit bringen sie zum Ausdruck, dass auch der Traum etwas ist, das sozusagen „über uns“ kommt. Einschlafen und Schlafen ist für viele Menschen eine der schwierigsten Situationen überhaupt.
Aufgeben, abgeben, sich untergeben, sich hingeben, sich ergeben, sich unterwerfen.
In Mutters Schoß
Alles fängt damit an, dass wir uns im besten Fall „in Mutters Schoß“ oder „an Mutters Brust“ geborgen fühlen. War unsere Mutter eine „sympathische“ Frau? Hat sie gut gerochen oder haben wir uns vor ihr geekelt? Hatte sie eine sanfte Stimme, ein Strahlen in den Augen? Oder kreischte sie herum und schlug uns? Die frühen körperlich-psychischen Erfahrungen, die wir mit der Mutter machen, werden Teil unseres Körper- und Lebensgefühls. Es gibt nichts Schlimmeres für ein Kind, als dass die Mutter, die eigentlich Schutz bieten soll, die Angreiferin ist. Diese Situation psychisch zu bewerkstelligen ist fast eine Unmöglichkeit – die Kinder blenden meistens das Schlechte aus oder versuchen „das Gute“ hinter der wütenden Fassade zu ergründen. Sie versuchen, den Schmerz der Mutter zu erkennen und die Mutter zu verstehen, um sich einen Reim machen zu können. Aber was bleibt, ist das Gefühl der Gefahr: Man muss vorsichtig bleiben.
Übertragung
Dieses Gefühl, vorsichtig bleiben zu müssen, kann sich auf viele Lebenssituationen übertragen. Die Vorstellung, sich als Erwachsene bei einer (ehemals) schlechten Mutter Rat zu holen, erscheint absurd. Dort zu übernachten ein Unding. Sich trösten zu lassen von einer Mutter, die gefährlich ist, ist wie die Quadratur des Kreises. So kommt es, dass die Betroffenen später eine Abneigung haben können gegen alles, was „Schutz“ bietet, was „weich“ ist, was umhüllt, was umsorgt, streichelt oder stärker ist als man selbst. Berührungen werden unbewusst heiß ersehnt, doch bewusst ist es den Betroffenen später kaum möglich, sich berühren zu lassen – emotional wie körperlich. Die Grundeinstellung ist: „Wehre Dich! Halte Abstand! Bleib Du selbst und gib‘ Dich keinesfalls hin!“
Im Extremfall: Kontrolliert unterwerfen. Manche Menschen finden aus dem Kampf zwischen Berührt-werden-wollen und Kontrollieren-wollen heraus, indem sie sich aktiv „unterwerfen“. So manche Perversion oder sadomasochistische Beziehung rührt aus der Angst vor echter Begegnung und Berührung. Wer kontrolliert „übertreibt“ und sich dem anderen unterwirft, der findet vielleicht kurzfristig Befriedigung, doch diese Befriedigung bleibt häufig nicht lange – oft entsteht ein suchtartiges Verhalten nach einer extremen Beziehung und eine Grund-Unzufriedenheit im Leben.
Zurück zum Beginn
Manche Menschen leiden so sehr unter ihrer Unfähigkeit, sich hinzugeben, dass sie eine Psychoanalyse beginnen. Natürlich können sie es bewusst nicht so benennen: Sie kommen mit Ängsten, Zwängen, Schlaflosigkeit, Depressionen oder Perversionen. Die Psychoanalyse bietet durch die lange Dauer der Behandlung die Möglichkeit, das Grundgefühl zu verändern. Zunächst fällt es vielen schon sehr schwer, sich auf die Couch zu legen. Liegt der Betroffene auf der Couch, beginnt oft ein langer Kampf und eine lange „Testung“, ob man dem Analytiker wirklich vertrauen kann. Die Phase der Vertrauensbildung kann sehr, sehr lange dauern.
Es ist paradox: Sobald man „Kind“ sein kann, fühlt man sich erwachsener. Denn wenn die Hingabe an eine andere Person möglich wird, wird auch die Hingabe an sich selbst und zum Beispiel den Partner möglich. Der eigene Körper erscheint weniger bedrohlich, körperliche Beschwerden können nachlassen, „innere Objekte“ verändern sich.
Es ist in der Psychoanalyse möglich, sich innerlich zu entwickeln und das bedeutet, dass sich die Gefühlswelt und die Wahrnehmung verändern können. Die Sehnsucht nach Berührung und Beziehung wird ebenso bewusst wie es die Kräfte und Aggressionen werden, die dagegen stehen. Der Weg zurück zum Ursprung wird möglich: Der Patient kann wieder zu einem Menschen werden, der die Berührung sucht und – diesmal bei einer weitgehend „gesunden Mutter“ – findet.
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 1.5.2018
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