Die Gefühle sind immer dieselben: Kaum naht man sich der Autobahn, geht der Puls hoch. Der Mund wird trocken, die Hände werden schweißnass. Viele kehren um und fahren gar nicht erst auf die Autobahn auf. Doch damit engen sich die Betroffenen ein. Vermeiden hilft nur im Moment – auf Dauer wächst der Ärger darüber, dass man sich nicht auf die Autobahn traut und der eigene Kreis immer enger wird. Wie lassen sich die Ängste verstehen?
Sich aussetzen
Viele Betroffene haben es schon mit der Verhaltenstherapie versucht, die oft auch hilft: Immer wieder setzt man sich der Situation aus und stellt sich der Angst – bis die Angst langsam vergeht. Doch es gibt auch viele Betroffene, die eine Verhaltenstherapie gemacht haben und das Autofahren tapfer geübt haben. Dennoch werden sie immer wieder von ihren Ängsten heimgesucht. Warum?
Psychoanalytische Sichtweise
Ängste haben immer ihren Sinn. Aus psychoanalytischer Sicht haben sie mit Wünschen, Gedanken, Gefühlen und Phantasien zu tun, die uns selbst gar nicht bewusst sind. Ängste treten immer dann auf, wenn bestimmte Situationen ein Symbol für diese unbewussten Gedanken sind.
Lesen reicht nicht
Das Dumme an diesen unbewussten Ängsten ist, dass das Lesen darüber nicht ausreicht. Wenn Sie hier also im Blog Beispiele von Betroffenen lesen und Beispiele von der Bedeutung, die das Autofahren für den Betroffenen XY hat, so wird Ihnen das kaum weiterhelfen, weil Sie Ihre eigenen Ängste, Gefühle und Phantasien haben, die Ihnen eben oft „unbewusst“ oder nur sehr schwer zugänglich sind. Dennoch hier ein paar Beispiele.
Mögliche Ursachen
Die Fahrschülerin Sina hat auf der Autobahn dann besonders Angst, wenn aufgrund einer Baustelle der rechte Fahrstreifen gesperrt ist. Das Gefühl, immer weiterfahren zu müssen und nicht stoppen zu können, macht sie völlig fertig. „Es gibt keinen Halt und keinen Ausweg mehr“, denkt sie. Das spiegelt ihre gesamte Lebenssituation gerade wieder. Sina fühlt sich eingeengt, streitet mit ihren Eltern, weiß nicht, ob sie das Abitur schaffen wird. Alles ist ungewiss. Sie fühlt sich gezwungen, ihren Weg weiterzugehen und sieht überhaupt keinen Ausweg mehr. Was Sina fehlt, sind Oasen im Alltag ebenso wie ein innerer Raum, in dem sie sich frei fühlt. Die äußeren Anforderungen sind so hoch und so eng, dass ihr der Alltag oft schwer fällt. Wenn Sina auf der Autobahn fährt und keine Möglichkeit mehr sieht, anzuhalten, ist diese Situation genau das Bild, das sie von ihrem jetzigen Leben hat. Sie kann nicht ausweichen. Das macht ihr Angst.
Mauern
Miriam ist in ihrer Beziehung schon lange unglücklich, aber sie macht sich vor, dass es doch alles noch irgendwie gut ist. Sie wurde immer zum Liebsein erzogen und kann kaum einmal ihren Ärger ausdrücken. In ihr tobt eine ungeheure Wut gegen ihren Freund. Doch diese Wut kann sie kaum wahrnehmen. Wenn sie jedoch Auto fährt, dann bekommt sie immer Angst, wenn sie auf einen Tunnel zufährt. Sie glaubt, „die Pferde könnten mit mir durchgehen“ und sie könnte einfach einmal gegen die Wand fahren. Das macht ihr unglaublich Angst. Sie kann diese Angst nicht in Verbindung mit ihrer aufgestauten Wut bringen und doch ist sie da: In einer Psychotherapie lernt sie, ihren unterdrückten Ärger wohldosiert zuzulassen. Bald schon lindern sich die Ängste und Miriam befürchtet nicht mehr, dass sie ungewollt gegen eine Wand fahren könnte.
Schweben auf der Brücke
„Ich habe keine Angst, dass die Brücke einkracht. Aber ich fühle mich einfach unglaublich haltlos, wenn ich auf so einer Brücke bin. Ich habe dann immer Angst, ich könnte durchdrehen und verrückt werden“, erzählt Nathalie. Auch Nathalie ist Fahrschülerin und hat gerade in ihrem Leben viele Schwellen zu überwinden. Die Ausbildung steht an, der Auszug von zu Hause, die Trennung von vielen Freunden. Das Alte muss sie verlassen, aber das Neue ist noch nicht greifbar. Sie hat wortwörtlich keinen Halt, keine Hand, an der sie sich festhalten könnte. Manchmal fürchtet sie sich vor ihren eigenen Plänen: Sie will Architektin werden und weiß nicht, ob sie das schafft. Nie zuvor hatte in der Familie jemand studiert. Die Brücke ist unbewusst ein Sinnbild für sie, zu neuen Ufern aufzubrechen und dabei ganz alleine zu sein. Nathalie aber findet eine „Technik“, mit der sie es doch schafft, über Brücken zu fahren: Sie denkt an einen Lehrer, dem sie sehr vertraut und stellt sich vor, seine Hand zu fassen, während sie über die Brücke fährt. Als sie wenige Jahre später privat und beruflich auf „sicheren Beinen steht“, kann sie gar nicht mehr nachvollziehen, dass sie einmal Angst vor Brücken hatte.
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