Sobald ein Ungeborenes das Licht der Welt erblickt, nimmt es Kontakt zur Mutter auf. Seine Stimme und gezielten Blicke erreichen sie und die Mutter weiß instinktiv, was sie tun muss. Dieses angeborene Bindungsverhalten sichert uns seit jeher das Überleben. Wie wichtig ist die Bindung des Kindes an die Mutter? Welche Folgen haben Vernachlässigung und zu frühe Trennungserfahrungen?
Die Mutter hilft dem Kind, Spannungen abzubauen
Der englische Psychoanalytiker John C. Bowlby (1907-1990) und die amerikanische Entwicklungspsychologin Mary S. Ainsworth (1913-1999) entwickelten die Bindungstheorie. Bowlby hatte im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Ende des zweiten Weltkrieges erforscht, was mit den Kindern passierte, die ihre Eltern verloren hatten. Er kam zu dem Ergebnis, dass traumatische Trennungserfahrungen in der Kindheit psychische Störungen im Erwachsenenalter hervorrufen können. Das kleine Kind braucht die Mutter (den Vater und/oder eine andere enge Bezugsperson) unbedingt, um mit Spannungen wie Angst oder Schmerzen umgehen zu können. Emotionale Entwicklung und psychische Sicherheit sind nur durch Bindung möglich. Erzieherinnen können das nicht ausreichend leisten, daher ist die Unterbringung des Babys in eine Krippe nicht empfehlenswert, wenn es nicht unbedingt sein muss.
Kinder brauchen weise und gute Erwachsene
Die Entwicklungspsychologen Klaus und Karin Grossmann fassen zusammen, was Bowlby erkannt hatte:
„Die Entwicklung von Bindungen an Erwachsene, die für das Kind da sind, die stärker und weiser sind, und die seine Bindungsbedürfnisse befriedigen, sind eine notwenige Voraussetzung für die Entwicklung psychischer Sicherheit. Ein bindungsloser Mensch ist ein psychisches Wrack und wegen seiner depressiven oder gewalttätigen Neigungen und Impulse eine Bedrohung für sich selbst und für andere.“
Quelle:
Klaus E. Grossmann und Karin Grossmann, Universität Regensburg
Die Qualität der Bindungen und ihre Auswirkungen auf die individuelle Anpassungsfähigkeit im Lebenslauf.
Vortrag Burg Rothenfels, 02.07.2004
(ehemaliger Link: http://www.vfa-ev.de/gross.htm)
Aus dem Vertrauen zur Mutter erwächst das Vertrauen zu anderen
Wer in verzweifelten Situationen als Kind von den Eltern Verständnis bekommen hat, der erwartet auch als Erwachsener Verständnis von anderen. Er kann seine Gedanken und Gefühle mitteilen. Das trägt zur seelischen Gesundheit bei. Wer nicht mit Verständnis rechnen konnte, der wird als Erwachsener misstrauisch gegenüber anderen bleiben und auch für sich selbst relativ wenig Verständnis haben. Doch auch als Erwachsener kann man noch neue Beziehungserfahrungen machen, die Vertrauen wecken und für ein sicheres Gefühl sorgen. Solche Beziehungen lassen sich oft im normalen Lebensumfeld finden. Wer dieses Glück nicht hat, dem kann möglicherweise eine psychoanalytische Therapie/Psychoanalyse weiterhelfen (www.dgpt.de). In einer psychoanalytischen Therapie/Psychoanalyse spielt die Beziehung zum Therapeuten eine sehr wichtige Rolle. Dieses neue Beziehungserleben trägt entscheidend zu mehr Wohlbefinden bei. Während der Therapie erhält man ein neues Gespür dafür, welche Beziehungen gut tun und welche nicht. So gestalten viele, die eine psychoanalytische Therapie machen, auch ihren Freundeskreis neu.
Wie Kinder auf Trennung reagieren
Die Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth untersuchte Mitte der 80iger Jahre, wie sich Kinder verhalten, wenn sie von ihrer Mutter getrennt werden. Sie schaffte eine so genannte Fremde Situation. Die Kinder gingen mit der Mutter in einen Raum, in dem eine fremde Person war. Dann verließ die Mutter das Zimmer und kam nach einer Weile zurück. In einem zweiten Versuch verließen sowohl Mutter als auch die fremde Person den Raum und kamen schließlich nacheinander zurück.
Mary Ainsworth fand drei Bindungstypen, die sich je nach Feinfühligkeit der Mutter ergaben:
Sichere Bindung (B-Bindung):
Sicher gebundene Kinder weinen, wenn die Mutter den Raum verlässt. Sie vermissen sie während der Abwesenheit und zeigen ihren Schmerz bei ihrer Rückkehr. Sie laufen zu ihr hin und lassen sich von ihr beruhigen
Unsicher-vermeidende (A-Bindung) und unsicher-ambivalente Bindung (C-Bindung):
Die „vermeidenden“ Kinder laufen nicht freudig auf die Mutter zu, wenn die Mutter nach einer Trennung zurückkommt, sondern halten vorsichtigen Abstand. Sie bleiben bei ihrem Spielzeug, ohne es zu beachten.
„Unsicher-ambivalent“ gebundene Kinder laufen auf die Mutter zu, lassen sich von ihr auf den Arm nehmen, erwidern jedoch nicht die Umarmung. Sie bleiben passiv auf dem Arm der Mutter.
Unsicher gebundene Kinder lassen sich nicht leicht von ihrer Mutter beruhigen. Sie beobachten sie ängstlich.
Die amerikanische Psychologin Mary Main beschrieb später noch die
Desorganisierte und desorientierte Bindung (D-Bindung):
Während unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent gebundene Kinder in ihrem Verhalten noch organisiert sind, sind die desorganisiert gebundenen Kinder völlig unvorhersehbar in ihrem Verhalten. Sie sind während der Trennung äußerst gestresst und wissen nicht, wie sie sich der Mutter wiederannähern sollen, wenn sie zurückkommt – mitunter zeigen sie Angst bei der Rückkehr und bizarre Verhaltensweisen.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
- Reaktive Bindungsstörung
- Gordon Neufeld: Unsere Kinder brauchen uns (Buchtipp)
- SAFE®: Sichere Ausbildung für Eltern
- Trennungsschmerz im Kindergarten
- Adult Attachment Interview (AAI)
- Desorganisierte Bindung
- Unsicher-vermeidende Bindung
- Unsicher-ambivalenter Bindungsstil (C-Bindung)
Links:
The Ainsworth Strange Situation Experiment
The New York Attachment Consortium
Youtube, 16.11.2010
Karl Heinz Brisch, Bindungsforscher
www.khbrisch.de
John Bowlby (1907-1990)
Arzt, Psychoanalytiker, Pionier der Bindungsforschung
Society for General and Integrative Psychology
Bowlby-Ainsworth Award 2007 des New York Attachment Consortiums verliehen an:
Dr. Karin und Prof. Dr. Klaus E. Grossmann
http://www.psychologie.uni-regensburg.de
New York Attachment Consortium
The Attachment Theory Website
http://www.richardatkins.co.uk/atws/index.html
Buchtipps:
Karl-Heinz Brisch:
Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie.
Klett-Cotta, 11. Auflage, 2011
Klaus E. Grossmann und Karin Grossmann (Hrsg.):
Bindung und menschliche Entwicklung.
John Bowlby, Mary Ainsworth
und die Grundlagen der Bindungstheorie.
Klett-Cotta, Stuttgart 2003
Karin Grossmann und Klaus E. Grossmann (Hrsg.):
Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit.
Klett-Cotta, Stuttgart 2004
John Bowlby, Margery Fry, Mary D. Salter Ainsworth (Hrsg.):
Childcare and the Growth of Love
Verlag Penguin Books Ltd. 1970
ISBN-10: 0140202714
Hesse Erik, Main Mary (2006):
Frightened, threatening, and dissociative parental behavior in low-risk samples: description, discussion, and interpretations.
Development and Psychopathology 2006 Spring; 18(2):309-343
Source: Department of Psychology, University of California at Berkeley, Kalifornien, USA
http://journals.cambridge.org/action/displayAbstract?fromPage=online&aid=420119
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/16600057
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 21.8.2012
Aktualisiert am 12.8.2014
Melinas meint
Wenn also eine tiefenpsychologisch orientierte Traumatherapeutin eine Therapie abbricht mit der Begründung: der Patient kann nicht vertrauen….ist das schon sehr bedenklich….als hätte sie noch nie von der Bindungstheorie gehört.
Robby meint
Es wird spannend zu beobachten sein inwieweit psychologische Erkenntnisse zu pädagogisch-politischen Imperativen werden.
Innerhalb der Forschungen zur Epigenetik beispielsweise wurden die negativen Auswirkungen von Depressionen auf die Mutter-Kind-Beziehung als schwerwiegend erkannt / eingestuft.
Prof. Dr. Johannes Huber berichtet in diesem Zusammenhang von Überlegungen schwedischer Behörden depressiven Müttern das Sorgerecht zu entziehen (in „Liebe läßt sich vererben“).
Ähnlich gelagerte Eingriffe in die persönliche Freiheit sind speziell bezogen auf (Umsetzungen der) Erkenntnisse der Bindungstheorie kann man in Großbritannien beobachten. Dort mit der Tendenz zu(r) (zwangsweise verordneten Annahme von) Beratungs-„Angeboten“.
Auch wenn solche Maßnahmen in Einzelfällen sinnvoll und angebracht sein mögen scheint mir die implizite Tendenz zu paternalistischer Bevormundung (Stichwort‚benevolent dictator‘) außerordentlich bedenklich.