Fremdenfeindlichkeit: Hochtrabendes trifft auf Primärprozesse
„Populismus: Der Aufstand gegen die liberale Demokratie und die Suche nach der richtigen Antwort“, lese ich (Cover des Rotary-Magazins, Mai 2017). Viele ähnliche Titel begegnen uns überall. Gesehen werden ganze Gruppen, Gesellschaften und Phänomene. Diskutiert wird hochintellektuell, mit Verstand und Vernunft. Man will Flagge zeigen. „Wir kämpfen gegen Fremdenfeindlichkeit!“, steht da. Und dann denke ich an meine Psychoanalyse-Praxis und an den einzelnen Menschen, der viel zu wenig angeschaut wird. Es ist, als wollte man die Masern bekämpfen, ohne einmal unter’s Mikroskop zu schauen und die Vorgänge im Kleinen zu verstehen.
Wenn wir nicht nur auf die „Gesellschaft“ schauen, sondern beim einzelnen Menschen anfangen, wird so vieles klarer. Wir müssen immer wieder beim Kleinkind anfangen. Das Kleinkind zeigt uns, wie tief im Menschen die Angst vor dem Fremden sitzt. Wenn wir mit einem knapp zweijährigen Kind zu einer Karnevalsparty gehen, können wir vielleicht sehen, wie tief der Schrecken bei manchen Kleinkindern geht, wenn sie Menschen mit Masken sehen. Wenn die Mutter eine neue Haarfarbe hat, kann das eine kleine Katastrophe im Kleinkind auslösen. Wenn man einem Kind sagt, dass der Mann, der da so weiblich geht, dennoch ein Mann ist, kann das Kind das nicht glauben. Die Kinderseele zeigt uns, wie die Seele „funktioniert.“
„Schule ohne Rassismus“ steht da. Irgendwie gut dass es da steht, müssen/wollen wir denken oder denken es wirklich. Und doch: Ist es nicht auch eine Verleugnung, die alles nur schlimmer macht? Kann man in die Köpfe der Schüler und Lehrer schauen? Ruft dieser Satz nicht auch Gegenwehr oder Unbehagen vor? Das Wort „ohne“ ist problematisch. Man könnte auch schreiben: „Schule ohne Industriezucker/ohne Katholiken/ohne xyz“. Das Thema lautet „Abgrenzung“ und „Ausgeschlossensein“. Und Ausgeschlossensein kann Hass hervorrufen.
Unterschieds-Angst
Unterschiede zwischen Menschen können in manchen Menschen große Ängste auslösen. Oft sind diese Ängste völlig unbewusst. Vielleicht ist der Betreffende, der unbewusst „rassistisch“ ist, sogar aktiv in einer „Stark-gegen-Rechts-Bewegung“. Vielleicht stehen wir einem gebildeten Menschen aus „gutem Hause“ gegenüber, der lange studiert hat und dennoch irgendwie „rechtsextrem“ zu sein scheint. Wie kann das sein? Die Bücher des Holocaust-Überlebenden, Psychoanalytikers und Friedensforschers Henri Parens (Psychosozial-Verlag) geben viele Antworten auf brennende Fragen.
Die Frage „Wie kann das sein?“ wird man sich so lange stellen, bis man in die früheste Kindesentwicklung schaut. Bis man sich einmal um die „Primärprozesse“ der Psyche kümmert. Wir alle funktionieren draußen in der Gesellschaft vordergründig „sekundärprozesshaft“ – das heißt, wir überprüfen die Realität, wir nehmen Rücksicht, wir sind „tolerant“, wir können denken und den Verstand walten lassen. Aber dennoch laufen in unserer Psyche immer auch Primärprozesse ab: Wir verwünschen den verhassten Nachbarn, wir sind durcheinander, unsortiert, auf bestimmten Gebieten ohne Orientierung, wir träumen nachts wild, wir fühlen uns mit anderen verschmolzen, haben sogenannte „irreale Ängste“ und vieles mehr.
„Die Affen hatten Angst vor mir. Sie haben halt noch nie einen weißen Affen gesehen.“ Tierforscherin Jane Goodall
Fremdenfeindlichkeit entsteht früh
Wenn wir uns die Kleinkindentwicklung anschauen, können wir beobachten, wie „gesunde“ und „krankhafte“ Entwicklungen aussehen. Welche Faktoren führen zu besonders großer „Fremdenangst“ bei kleinen Kindern? Wie reagieren unsicher gebundene Kinder und sicher gebundene Kinder auf sogenannte „Fremde Situationen“? In der frühen Bindung zu den Eltern werden die Weichen gestellt, ob ein Kind sich innerlich frei und sicher fühlt, ob es andere tolerieren kann oder Angst bekommt vor Unterschieden. Natürlich können wir „Nein zu Fremdenhass“ sagen, aber wir sollten berücksichtigen, wie es in der menschlichen Psyche aussieht. Wo macht uns selbst „Fremdes“ Angst? Wo wollen wir eigene Abneigungen nicht wahrhaben? Jeder, der lieben kann, kann auch hassen. Wendet sich der Geliebte ab, oder ist er so ganz anders, als wir es uns vorstellten, kommen Wut und vielleicht sogar Hass hervor.
Wir alle sind auch noch „Kind“ in unserer Psyche, egal wie lange wir studiert haben oder welche hohe berufliche Position wir bekleiden. Und dieses „Kind“ kann eben nichts mit diesen „Erwachsenen-Überschriften“ und Diskussionen anfangen. Wir brauchen mehr Verständnis für die psychischen Vorgänge, bevor wir die Rätsel des „Fremdenhasses“ ansatzweise lösen können. Viele Antworten kennen wir. Doch der Schrecken ist zu groß. Wir ahnen, dass vieles in der frühen Kindheit angebahnt wurde. Wir sehen es, wenn wir vernachlässigte Kinder und orientierungslose Jugendliche sehen. Das gibt uns das Gefühl, ohnmächtig zu sein. Und so versuchen wir es mit „Kampf-Aktionen“. Doch so wichtig mancher Kampf auch sein mag – er sollte immer von dem Versuch begleitet sein, die kleinen Bausteine zu verstehen.
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Links
Moon, C, Cooper, RP, Fifer, WP (1993)
Two-day-olds prefer their native language
Infant Behavior and Development, Volume 16, Issue 4, October–December 1993, Pages 495-500
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/016363839380007U
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 13.5.2017
Aktualisiert am 14.7.2025