Wie grenze ich mich als Psychotherapeutin ab? Gar nicht.

Ich muss mich nur so lange abgrenzen, solange ich überfordert bin. Der Chirurg muss sich nicht mehr von Blut abgrenzen, weil er es kennt. Wir Erwachsene müssen nicht mehr vor „Hänsel und Gretel“ weglaufen, weil wir verstanden haben, dass die böse Hexe ein Teil der guten Mutter ist. Wir können die Geschichte symbolisch verstehen. Wir können „Ja“ sagen, obwohl der andere auch „Ja“ sagt, wenn wir in uns spüren: Das sind wir selbst, die wir da „Ja“ sagen. Mich abgrenzen – oder besser gesagt „abwehren“ – muss ich als Psychotherapeutin nur so lange, bis ich mich selbst besser verstanden habe.

„Abgrenzen“ muss ich mich als Therapeutin natürlich vor den „Verführungen“ – von meinen inneren Verführungen und denen des Patienten. Ich möchte mich nicht verleiten lasse, etwas zu sagen, hinter dem ich nicht stehe. Ich kann einem möglichen Verliebtsein in einen Supervisor oder Patienten nicht auf Realebene nachkommen. Aber das hat nichts mit dem verkopften „Abgrenzen“ zu tun, wir wir es aus den unzähligen „Nein-Sage-Ratgebern“ kennen. Wenn wir uns ernsthaft abgrenzen möchten, dann spüren wir das vielleicht wie eine Welle oder Wallung in uns, die uns sagt: „Da möchte ich nicht hin“, oder „hier kommt der Patient mir zu nah“.

Daher ist es die beste Ausbildung für Psychotherapeuten, so viel Selbsterfahrung wie möglich zu machen. So kommen wir an unsere eigenen Perversionen, Borderline- und pychotischen Gebiete heran. Nur, wenn wir uns mit uns selbst wahrheitssuchend auseinandersetzen, können wir mit Interesse dem Patienten begegnen. Jemand kann nicht um seine Mutter trauern? Ein Patient möchte sich das Leben nehmen? Ein Patient emfindet Erregung bei dem Wort „Vergewaltigung“?

Fast alles, von dem Patienten erzählen, kann ich als Therapeutin vielleicht in irgendeiner Form in mir wiederfinden. Und ich kann dem nachgehen, es erfoschen, es symbolisieren. Wenn ich dem Leiden nicht aus dem Weg gehen will, sondern die Wahrheit als das Befreiendste empfinde, dann muss ich mich als Psychotherapeutin nicht im modernen Sinne „abgrenzen“. Ich trete in Resonanz mit dem Patienten, nehme ihn in Gedanken mit nach Hause, habe sogar vielleicht Gegenübertragungsträume. So wird die Arbeit manchmal verfolgend, bei Verstehen aber auch wirklich befriedigend. Und vor allem wird die Arbeit auf eine gewisse Weise viel weniger anstrengend, weil ich meine Kräfte nicht zum Abgrenzen einsetzen muss, sondern zum Verstehen.

Auch Patienten glauben häufig, dass der Therapeut „seine Gefühle abschalten“ müsse, damit er wirklich helfen kann. Doch ist das so? „Ein Patient möchte seine Tochter nach mir benennen! Ich finde, das geht zu weit, das kann er nicht machen!“, sagt eine junge Psychotherapeutin in einer Fortbildungsveranstaltung. „Warum denn nicht?“, fragt der Dozent. Darauf konnte sie kaum antworten. Es war einfach ein Gefühl, das sie quälte. Sie fühlte sich in ihren Grenzen nicht respektiert, sie fühlte sich bestohlen und nachgeahmt. Sie fühlte sich, als würde jemand in sie einsteigen, als würde ihr etwas weggenommen, als würde mit ihr etwas geschehen, was sie selbst nicht in der Hand hatte.

Doch all das lässt sich untersuchen – es gibt wertvolle Hinweise darauf, wie unsere Psyche funktioniert, was sich in der Psyche des Patienten bewegt, wie sich unsere Beziehung gestaltet. Wir müssen dem Patienten nicht verbieten, sein Kind nach uns zu benennen. Aber vielleicht können wir unsere unangenehmen Gefühle in die Therapie einbringen und zum wirksamen Agens werden lassen.

Unkonkretes fühlt sich an wie Konkretes

Oft wird deutlich, wie auch für Psychotherapeuten Symbolisches und Gedankliches zum Problem werden kann. Obwohl es sich nicht um sichtbare Dinge handelt (von einem Kind mit dem selben Namen einmal abgesehen), sondern nur um Ideen, Symbole, Wünsche und Gedanken, fühlt es sich an wie eine Gefahr oder eine Verletzung der Integrität.

Gerade ältere Psychoanalytikerr zeigen sich oft nicht mit Bildern im Internet. „Wer weiß, was Patienten damit machen?“, fragen sie ängstlich.

Der Patient fühlt sich wie ein Monster

„Borderline-Patienten manipulieren einen. Da muss man echt aufpassen, sonst packen sie Dich und machen mit Dir, was sie wollen. Da weißt Du am Ende nicht mehr, wo oben und unten ist. Deshalb muss man sich vor ihnen schützen“, sagt ein Psychotherapeut. „Irgendwie habe ich immer das Gefühl, ich wirke auf Therapeuten wie ein Monster. Dabei habe ich einfach nur Angst“, sagt ein Patient. Was also ist es, wovor der Therapeut „sich schützen“ will?

Das Gefühl, sich schützen zu wollen, hat mit dem eigenen Unbewussten zu tun. Je weniger ich es kenne, desto schwieriger kann die Beziehung zum Patienten werden. Eine Psychotherapie-Ausbildung sieht im Vergleich zur Psychoanalyse-Ausbildung nur wenige Selbsterfahrungsstunden vor. Patienten mit schwerem psychischen Leiden sind aber oft sehr feinfühlig und können das Unbewusste des Therapeuten häufig gut erfassen. Das ist es unter anderem, was Psychotherapeuten Angst machen kann und in ihnen das Gefühl weckt, sie müssten sich schützen. Sehr deutlich werden die Probleme, wenn Psychiater (mit sehr wenig psychoanalytischer Ausbildung) auf psychotische Patienten treffen. Da kommen Angst und Nicht-Verstehen so sehr zum Tragen, dass der Patient kurzerhand mit Medikamenten ruhig gestellt wird.

Sowohl beim Patienten als auch beim Psychoanalytiker findet eine Art Ich-Spaltung statt: Es gibt einen Teil im Inneren, der real erlebt wird und einen Teil, der weiß, dass es ja „nur Psychoanalyse“ ist. Also ich kann „wirklich“ sauer auf den Analytiker/auf den Patienten sein und es doch als eine „*Übertragung“, eine Art Spiel oder künstlich hergestellte Situation begreifen. So, wie wir im Inneren uns selbst beobachten können, so können wir auch sagen: Gerade könnte ich den anderen zum Mond schiessen, aber im Grunde weiß ich, dass ich ihm vertrauen kann. Manchmal geht der innere Abstand verloren und Psychoanalytiker und/oder Patient fühlen sich „ganz gefangen“ in der Szene. Wir können vielleicht noch wahrnehmen, aber nicht mehr denken. Wir können im Moment vielleicht noch beobachten, aber erst im Nachhinein kann der Abstand wiederhergestellt werden. Durch Verstehen werden unreife Beta-Elemente zu reifen Alpha-Elementen. Aber nicht immer. Manchmal bleiben die Dinge schwer fassbar und unaussprechlich.

Psychoanalytiker sind aufgrund ihrer Ausbildung möglicherweise häufig angstfreier

Je besser wir uns selbst als Therapeuten kennen, umso geringer wird die Angst vor dem Patienten. Vereinfacht gesagt: Wenn ich eine schiefe Nase habe und mich mit Mitgefühl damit auseinandergesetzt habe, dann kränkt es mich nicht mehr so sehr, wenn jemand feststellt: „Du hast aber eine schiefe Nase!“ Will ich meinen Makel jedoch immer wieder schmerzvoll verdrängen, kann eine Bemerkung sehr verletzend wirken. Je besser ich als Psychotherapeutin durch eigenes Leid begleitet wurde, desto besser kann ich auch das Leid des Patienten verstehen oder zumindest begleiten.

Je tiefer ich verstehe, dass Psychotherapie und Psychoanalyse ein Feld der Unsicherheit und der Angst sind, desto gelassener kann ich damit umgehen. Natürlich nicht immer – es gibt immer wieder Phasen, die auch den erfahrensten Therapeuten zutiefst verunsichern, ängstigen und erschüttern.

Säuglingsforschung und Entwicklungspsychologie helfen

Angst geht durch Verstehen häufig zurück. Wer die Säuglings-/Kleinkind- und Bindungsforschung kennt, der weiß, was Kinder mit der Mutter/dem Vater „machen“, um psychisch zu reifen. Nichts anderes „machen“ Patienten mit dem Therapeuten bzw. Psychoanalytiker auch. Es ist gut zu wissen, dass es zum Reifungsprozess des Patienten gehört, dass der Patient den Psychotherapeuten „benutzt“. Der Analytiker stellt sich sogar bewusst zur Verfügung, um sich psychisch vom Patienten benutzen zu lassen. Der Patient baut den Therapeuten sozusagen in seine Psyche ein.

Es gibt „das Böse“ und „böse Patienten“, die aus Gewalterfahrungen, Mangelerfahrungen und unglücklichen Entwicklungen heraus dem Psychotherapeuten/Psychoanalytiker wirklich schaden können. Allein das Wissen, dass Patienten ebenso wenig „liebe Engel“ sind wie andere Menschen und dass traumatisierte Menschen die erlebte Gewalt oft in sich tragen und reinszenieren, ist ein wichtiger natürlicher Schutz. Vorsicht, Bedacht, ein gutes Selbstgefühl, Austausch mit anderen und ein konsequenter Rahmen können ebenfalls als Schutz wirken. Wie weit sich ein Therapeut einlassen kann oder mit Schutz und Abgrenzung beschäftigt ist, hängt von unzähligen Faktoren ab.

„Man selbst ist als Person ja nicht gemeint“, sagen manche Psychoanalytiker. „Es findet eben alles in der Übertragung statt.“ Die Person des Analytikers ist nach diesem Modell sozusagen ein „Stellvertreter-Bild“ für andere Personen, mit denen der Patient frühere Beziehungen erlebte. Diese Sichtweise kann allerdings manchmal auch ein Schutz-Argument sein. Manche Analytiker sagen, dass Hass und Liebe nicht ihrer Person selbst gelten, sondern nur als Übertragungsliebe und Übertragungshass zu verstehen sind. Die Patienten jedoch erleben das meistens ganz anders: viel echter. Und auch viele Analytiker verstehen es in Zeiten der Intersubjektiven Psychoanalyse mehr als Mischung aus Übertragung und Real-Beziehung. Zwar bestehen auch Alltags-Beziehungen aus einer Mischung aus Übertragung und „echter“ Beziehung, doch in der Analyse ist der Übertragungsanteil oft sehr groß.

Eigene Ängste nutzen

In Psychotherapie und Analyse spielen nicht nur die Gefühle des Patienten, sondern auch die des Therapeuten eine wichtige Rolle. Die Gefühle des Psychotherapeuten („Gegenübertragungsgefühle“) können dazu dienen, die Entwicklung des Patienten, aber natürlich auch die eigene Entwicklung zu fördern. „Wer ist dein grösster Meister?“, wird die Zen-Meisterin Gu Ja im Youtube-Video „Just eat, sleep and shit“ gefragt. Sie antwortet treffend: „You! You!“.

Mit zunehmender Erfahrung kann das Bedürfnis, sich als Psychotherapeut abgrenzen und schützen zu müssen, zurückgehen. Auch wir Therapeuten reifen mit unseren Lebenserfahrungen – wir werden Eltern oder erfahren den Schmerz der ungewollten Kinderlosigkeit und Partnerlosigkeit. Wir kennen die Arbeitswelt, Geldnöte, Krankheiten. Wir sind selbst erschüttert und können es zulassen, uns emotional berühren und auch erschüttern zu lassen. Ähnlich wie Kinder erst ab einem gewissen Alter aus Rührung weinen können, so können wir uns als Therapeuten auch erst mit der Zeit angstfreier von unseren Patienten berühren lassen. Eine Studie von Blume-Marcovici AC et al., 2013 hat gezeigt, dass erfahrene Therapeuten öfter mit ihren Patienten weinen als unerfahrene. Eine eigene Lehranalyse, die Schutz und Wärme bietet, macht den Analytiker freier. Dafür sind die Patienten meistens sehr dankbar.

„Von dem ganzen Abgrenzen werdet ihr nur müde.“ Ein Professor für Allgemeinmedizin zu seinen Studenten.

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Dieser Beitrag erschien erstmals am 30.8.2016
Akktualisiert am 13.5.2025

3 thoughts on “Wie grenze ich mich als Psychotherapeutin ab? Gar nicht.

  1. ivyglas sagt:

    Vielen Dank, so wahr, so wichtig in Psycho-Berufen! Lg

  2. Dunja Voos sagt:

    Liebe Fischmondfahrt ;-),
    also ein Kind „benutzt“ ja seine Eltern, es „verwendet“ sie ja. Es testet an ihnen Phantasie und Wirklichkeit, Mädchen-Sein, Junge-Sein, „Mülleimer-Funktionen“, Wiedergutmachungsversuche, Wütend-Machungs-Versuche, Verführung, Verheimlichungen, Gedankensicherheit, Reizbarkeit, Abschiedsverhalten, Gefühle bei Abwesenheit etc. Daran lernt das Kind sich selbst und seine Gefühle sowie die Reaktionen des anderen kennen. Es lernt dabei auch, zu mentalisieren. Und es fragt sich immer: Überlebt Mutter/Vater meine Angriffe? Meinen Neid? Meine Eifersucht, meine Liebe, meine Tötungswünsche, meine Beziehungs- und Trennungswünsche etc.? Kann der andere ein getrennter Mensch bleiben oder wird er übergriffig? Alles Fragen, die ein Kind bei Mutter/Vater ausprobiert. Der Analytiker ist jemand, der sich für diese „Forschungen“ benutzen lassen kann: Er wird zum Liebesobjekt, zum Hassobjekt, zum Verfolger etc. Der Patient kann den Analytiker als „Mülleimer“ benutzen, als „Sorgenfresser“, als Feind, Freund oder phantasiertes Liebesobjekt. Meistens kommt der Patient ja, weil die eigenen Eltern hier irgendwo nicht so reagierten, wie es für das Kind gesund gewesen wäre. Wenn der Betroffene dann als Patient wiederholt etwas ausprobieren kann, was früher schief ging, dann kann er Altes wiederherstellen, es untersuchen und schließlich auch Unterschiede feststellen und häufiger erleichternde gute Ausgänge erleben. Manche Patienten werden einfach dadurch stückweise gesund, dass sie merken: Der Analytiker überlebt meine Angriffe, meinen Hunger etc. Das erfährt der Patient aber nur, wenn der Analytiker bereit ist, sich „benutzen“ zu lassen, also sich z.B. nicht wehrt, wenn der Patient ihm eine bestimmte Rolle überstülpt, z.B. eine sadistische Rolle, um etwas bewusst werden zu lassen.
    Also um in Ihren Worten zu bleiben: Der Patient muss ja die alten Beziehungsstrickmuster erstmal wiederherstellen, um zu erkennen, was da überhaupt passiert. Wenn das dann analysiert und erfasst wurde, dann kann er ein Gefühl dafür bekommen und Dinge auch bewusst verändern.
    Herzliche Grüße, Dunja Voos

  3. Fischmondfahrt sagt:

    Liebe Dunja Voss,
    sehr interessant der Artikel! Mir ist nur nicht klar, inwiefern ein Patient einen Therapeuten „benutzen“ soll. Ist nicht Sinn der Sache, dass statt funktionalisierender „Beziehung“ eine wirkliche Bezogenheit erlernt, gefördert werden soll? Wieso macht es Sinn, in alten Beziehungsstrickmustern hängen zu bleiben indem sie weiter praktiziert werden? Vielleicht fehlt mir einfach nur ein Beispiel um zu verstehen was gemeint ist.
    Herzlicher Gruss, Fischmondfahrt

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