Persönlichkeitsstörung (engl. Personality Disorder) – ein problematischer Begriff

Die Persönlichkeitsstörung ist eigentlich eine Beziehungsstörung. Persönlichkeitsstörungen sind relativ weit verbreitet – weltweit leiden schätzungsweise 7% daran (Winsper C. et al., 2019/2020). Wir alle sind in bestimmten Bereichen, neurotisch, psychisch „niedrig strukturiert“ oder merkwürdig. Doch auch, wenn wir eine „Persönlichkeitsstörung“ haben, können wir oft ein relativ normales und auch erfolgreiches Leben führen. Oft können wir unsere Störung – vielleicht sollte man besser sagen: „Verletzung“ oder „Beschädigung“ – spüren und in eine Stärke umsetzen. Vielleicht leiden wir irgendwie an unserem Leben, ohne dass wir unser Leiden genauer beschreiben könnten.

Hinter vielen „Persönlichkeitsstörungen“ steckt eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS, ICD11: 6B42). Auch muss man die Kultur und die soziale Schicht berücksichtigen, in der jemand aufgewachsen ist. Beispielsweise sind Menschen aus „bildungsfernen“ oder schlicht armen Schichten sehr viel direkter, „grenzüberschreitender“ und „lauter“ als Menschen aus wohlhabenderen und/oder gebildeteren Schichten. Beziehungsstörungen können sich ganz unterschiedlich äußern.

In einer Sendung vom Deutschlandfunk vom 8.9.2022 äußert sich der Psychiater Andreas Heinz sehr klug: „’Wer nimmt sich das Recht zu sagen, das ist eine gewünschte, übliche, von mir aus sogar statistisch durchschnittliche Persönlichkeit, und was bringt uns das?‘ Der Berliner Psychiater Andreas Heinz hält solche Expertenurteile über pathologische Schwellenwerte generell für problematisch.“ (Psycho-Revolution: Neustart für die Diagnosen der Psychiatrie, Deutschlandfunk)

Ein unbestimmtes Leiden

Der Psychoanalytiker Otto Kernberg hat die Persönlichkeitsstörungen meisterhaft erklärt. Beispielsweise fasst er in leicht verständlicher Sprache einen Unterschied zwischen der Borderline- und der narzisstischen Persönlichkeitsstörung zusammen: Während der Mensch mit einer Borderlinestörung ängstlicher von der körperlichen Anwesenheit eines anderen abhängig ist, behauptet der narzisstische Mensch, er komme ohne andere Menschen aus (Youtube: Borderline-Notes: Otto Kernberg, What are Personality Disorders?). Einerseits empfinde ich seine scharfen und detaillierten Beschreibungen faszinierend. Sie geben eine gute Orientierung. Andererseits besteht die Gefahr der Kategorisierung – beispielsweise, wenn es heißt, dass ein Patient eine Medikation nehmen „muss“.

Der Begriff „Persönlichkeitsstörung“ wird in Lehrbüchern zwar auf und ab definiert, doch entscheidend ist das Leiden. Bei einer Persönlichkeitsstörung leidet der Mensch in besonderer Weise an sich selbst und häufig leiden andere unter ihm. Cholerisch, trotzend, manipulierend, provozierend, lügend, glitzernd, verletzend, gewalttätig, machtsüchtig, geldgierig, alkoholabhängig, unfähig zu trauern und einsam – die Palette der Eigenschaften ist riesig. Doch worunter die Betroffenen oft am meisten leiden, ist, dass sie kaum befriedigende Beziehungen knüpfen können – zu groß ist die Angst vor Ablehnung, vor Aufgefressen- oder Fallengelassenwerden oder vor Schmerzen.

Wenn bestimmte Persönlichkeitsmerkmale stark ausgeprägt sind, sprechen Psychologen auch von „akzentuierten Persönlichkeitsmerkmalen“. Oft gelingt es dem Betroffenen aus psychischen Gründen nicht, sich selbst zu verwirklichen. Extremsituationen wie Armut oder Wohlstandsverwahrlosung spielen dabei häufig eine Rolle.

Kein bestimmtes Symptom im Vordergrund

Vielleicht hast Du auch einen enormen Leidensdruck, doch Du kannst kein Leitsymptom nennen. Eine „handfeste Depression“ wäre Dir auf eine Art vielleicht lieber. Doch Du leidest vielleicht schlicht am Leben, an Deiner Existenz und/oder an der Existenz anderer. Vielleicht sehnst Du Dich danach, Dich und/oder andere zu zerstören, vielleicht findest Du einfach keinen Sinn im Leben. Möglicherweise sagen Dir andere, Du sollst eine Therapie machen, doch Du fragst Dich, was das bringen könnte. Auf eine gewisse Weise nimmst Du Dein Leiden als „normal“ wahr. Wie Du fühlst und Dich verhältst, kommt Dir vielleicht so normal und logisch vor, dass Du es nicht in Frage stellst. Dein Verhalten ist vielleicht „Ich-synton“, das heißt, es kommt Dir nicht fremd vor, obwohl sich andere oft darüber beschweren.

Vielleicht merkst Du, dass es Dir an psychischer Flexibilität fehlt – Du siehst vieles aus einer eingeengten Perspektive, neigst vielleicht zum zwanghaften Festhalten an Deinen Meinungen. Möglicherweise fühlst Du Dich sehr verletzlich und nimmst das, was andere sagen, schnell als bösartig wahr, während Du selbst nicht richtig merkst, wenn Du andere verletzt. Vielleicht würdest Du auch gerne ganz anders sein und anders handeln, aber Du kannst es irgendwie nicht. Vielleicht bemerkst Du auf einer Ebene dennoch deutlich, dass etwas „nicht normal“ ist – und das zeigt, dass Du eine innere Vorstellung von „normal“ hast. Es ist, als ob Du spürtest, dass es zu kalt oder zu heiß ist, doch Du kannst die Wohlfühltemperatur nicht finden.

Eine Analytische Psychotherapie (Psychoanalyse) könnte Dir vielleicht wirklich gut helfen, denn Du gehst eine nahe therapeutische Beziehung zu Deinem Analytiker ein, sodass Deine Probleme gut sichtbar werden. So kannst Du mit der Zeit Zusammenhänge finden, Mitgefühl zu Dir selbst entwickeln und Dich und andere ernster nehmen. Die Suche nach der inneren Wahrheit hilft Dir dabei.

Die Ursachen der Persönlichkeitsstörungen liegen meist in der frühen Kindheit. In der psychoanalytischen Theorie wurde die Persönlichkeitsstörung früher als „Charakterneurose“ bezeichnet. Sie zählt zu den Frühen Störungen. Typische Persönlichkeitsstörungen sind die narzisstische und die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Im Erwachsenenalter entstehen Persönlichkeitsstörungen manchmal nach lang anhaltenden Extremsituationen.

Natürlich können auch Hirnerkrankungen wie Tumore oder Schlaganfälle die Persönlichkeit verändern, was dann als Psycho-organisches Syndrom (POS) oder Hirnorganisches Psycho-Syndrom (HOPS) bezeichnet wird.

Einteilung in Cluster

Nach dem amerikanischen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) werden die Persönlichkeitsstörungen in „Cluster“ unterteilt:

  • Cluster A: Persönlichkeitsstörungen mit absonderlichem/exzentrischem Verhalten: paranoide/schizoide/schizotypische Persönlichkeitsstörungen
  • Cluster B: Persönlichkeitsstörungen mit dramatischem Verhalten: Borderline/emotional instabile/histrionische/narzisstische/antisoziale Persönlichkeitsstörung
  • Cluster C: Persönlichkeitsstörungen mit ängstlichem Verhalten: vermeidend-unsichere/dependente/zwanghafte Persönlichkeitsstörungen

Es gibt viele weitere Schemata, um Persönlichkeitsstörungen einzuteilen, unter anderem die „Big Five“ der Persönlichkeit (Wikipedia): Offenheit, Gewissenhaftigkeit [„Consciousness“], Extraversion, Verträglichkeit [Agreeableness], Neurotizismus („OCEAN“). Andreas Heinz meint hierzu: „Womöglich verführen die fünf Dimensionen, die man abfragen kann, auch dazu, die sozialen Hintergründe der Symptome zu vernachlässigen.“ (Deutschlandfunk, 8.9.2022) Und: „Auch Andreas Heinz von der Berliner Charité würde am liebsten auf die Kategorie ‚Persönlichkeitsstörung‘ ganz verzichten“, heißt es in der Sendung.

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Dieser Beitrag erschien erstmals im Jahr 2006.
Aktualisiert am 10.5.2024

4 thoughts on “Persönlichkeitsstörung (engl. Personality Disorder) – ein problematischer Begriff

  1. Pjor sagt:

    Zur Begrifflichlichkeit: Anstelle von Persönlichkeitsstörung > Persönlichkeitsstruktur (?).

  2. Dunja Voos sagt:

    Hallo BP,

    ich bin genau Ihrer Meinung: die „Persönlichkeitsstörung“ oder „Störung“ sind „Unworte“. Daher setze ich diese Begriffe meistens auch in Anführungszeichen. Es ist wirklich an der Zeit, hier neue Begriffe zu finden und zu verwenden.

    Viele Grüße
    Dunja Voos

  3. BP sagt:

    Ich empfinde es als zusätzlich verletzend, wenn helfende Menschen, nennen wir sie mal Arzt oder Psychologen, von einer Störung sprechen. Ich persönlich bezweifel zu tiefst das eine wirkliche Störung existent ist…wie auch hier erwähnt liegt ein Großteil der Ursachen in WUNDEN aus Kindheitstagen und ich denke das die Umdefinition von Störung zu Wunde erforderlich ist.

    Wunden kann man pflegen, versorgen und heilen. Eine Störung ist ein Umstand, eine Trennung und mit Sicherheit eher etwas, was auf den Patienten selbst störend wirkt und ggf. werdend ist. Aber mit Sicherheit ist es für den betreffenden Menschen störend, aber gestört….ich wage zu bezweifeln das damit der richtige Impuls zur richtigen Richtung gesetzt wird und wünsche mir selbst ein Anfag und Begin des Umdenkens von Menschen die die Zulassung zu haben, zu behandeln oder zumindestens in der Lage sind Worte zu publizieren.

  4. Vielen Dank für Deinen Beitrag. Der Umgang mit dem Begriff und der Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ ist schwierig, und als ich den Beginn Deines Beitrags mit den „bunten Früchtchen“ las, überlegte ich auch, ob das wirklich zutrifft. Dass das die persönlichkeitsgestörten Menschen sind.
    Ich neige dazu, die Störungen der Persönlichkeitsentwicklung in ihrem Ergebnis noch etwas zu differenzieren, und damit den Entwicklungsaspekt hervorzuheben. Dann sind die Menschen mit so akzentuierten Persönlichkeitseigenschaften nicht gleich im Sinne unseres Krankheitsbegriffs krank, sondern „haben eine Persönlichkeit“, die auch unter bestimmten Umständen störend wirkt.
    Dann kann der cholerische Chef z.B. auch ein Mensch sein, der eigentlich nicht so gestört wäre, wenn er nicht ständig unter einem solchen Druck stünde. Oder der eigenbrödlerische Professor ist eben ein Mensch mit besonderen Persönlichkeitszügen.

    Mir scheint die Unterscheidung wichtig, um nicht der Versuchung zu unterliegen, den Störungsbegriff zu schnell und zu weit auszudehnen, was m.E. eine der großen Gefahren ist, die im heutigen Umgang mit Persönlichkeitsstörungen steckt.

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