Einen gemütlichen ersten Advent – auch im Alleinsein

Der Kampf gegen das Alleinsein wird in der Weihnachtszeit oft wieder größer. Er ist oft auch ein Kampf gegen das Einsamkeitsgefühl in Partnerschaft und Gruppen. Obwohl Kirchen immer wieder von „Gemeinschaft“ sprechen, fühle ich mich meistens unendlich einsam, wenn ich mal in eine Messe gehe – weil ich das Gefühl habe: „Das können die doch nicht ernsthaft glauben, was die hier alle im Chor murmeln.“ Und dann fühlt es sich für mich an, als sei ich an einem Ort der Lüge. Und doch wird es da vielleicht ein paar Menschen geben, die so denken und fühlen wie ich. Wer nicht allein sein will, muss häufig sehr große Hürden überspringen. Manchmal ist der innere Schmerz so groß, dass der Sprung kaum möglich erscheint. Zu viel wäre zu tolerieren, zu sehr müsste man sich zusammennehmen oder „verstellen“.

Die Hürden, die den Verbindungen im Wege stehen, sehen oft schlimm aus: Da gab es Gewalt in der Familie. Finanzielle Sorgen erwecken Scham und machen vieles unmöglich. Da sind Krankheiten und toxische Beziehungen. Da ist man verständlicherweise lieber – auch entgegen eigener Wünsche und Sehnsüchte – wirklich allein.

Am dunklen Winterabend zur Freundin, zur Orchesterprobe oder zum Weihnachtsessen zu fahren, macht oft sehr einsam. Während der Fahrt dorthin möchtest Du am liebsten wieder umkehren. Und wenn Du eine gute Verbindung gefunden hast, sorgst Du Dich vielleicht ständig darum, sie wieder zu verlieren. Nach jeder guten Zeit gibt es den großen Schmerz und Frust des Abschieds – auch er will toleriert werden. Nichts ist komplizierter als Gemeinschaft. Und dennoch suchen wohl die meisten Menschen danach.

„Advent“ leitet sich vom Lateinischen „advenire“ = ankommen ab.

Andere Menschen rauben uns oft die Energie, aber sie geben uns auch Energie. Das „Mitschwimmen“ kann ermüden, aber auch Kraft geben. Sich aufzuregen über andere ist auch eine Art Energie. Einmal am Tag in ein Café zu gehen (wenn Du es Dir leisten kannst), kann vielleicht zumindest für ein Stündchen bei einem guten Buch die Langeweile und Leere vertreiben. Und wenn nicht, dann schreib auf, wie es ist, sich so zu fühlen, wie Du Dich fühlst. Wenn wir unser Erleben unter die Lupe nehmen, wird es zunächst oft schlimmer. Wenn wir es üben und immer wieder „durcharbeiten“, wie Freud es nannte, geben wir uns die Chance, zu erfahren, wie „es“ sich auflöst. Oder auch nicht. Hauptsache, wir versuchen, ehrlich wahrzunehmen, was da in uns ist.

Können wir mit uns selbst über unseren eigenen Mangel sprechen?

„Lang“ heißt manchmal auch „ein Leben lang“

Aus unseren größten Schwierigkeiten können wir eine Lebensmeditation machen. Den Kampf gegen das Alleinsein führen wir oft jahre- und jahrzehntelang, besonders in psychischer oder körperlicher Krankheit, im Ausland, in Isolation, im Alter oder in neuen Lebenssituationen. Vielleicht wurden wir verlassen und feiern dieses Jahr das erste Mal ganz alleine. Doch die Einsamkeit verbindet die Menschen. Der Psychoanalytiker Harry Guntrip (1901-1975), 1971) schreibt in seinem Beitrag „The Promise of Psychoanalysis“ (fromm-gesellschaft.eu, PDF) über einen Patienten, der es geschafft hat, zum Alleinsein fähig zu werden. Guntrip schreibt: „His newly won capacity to be alone without anxiety was the hallmark of his maturity (S. 4).“ (Frei übersetzt von Voos: „Seine neu gewonnene Fähigkeit, ohne Angst allein sein zu können, war seine größte Errungenschaft im Reifeprozess.“) Guntrip zitiert dann den Psychoanalytiker Erich Fromm (1900-1980) (Fromm-Gesellschaft.eu):

„The deepest need of man, then, is the need to overcome his separateness, to leave the prison of his aloneness.“ (Das größte Bedürfnis des Menschen ist es, seine Getrenntheit zu überwinden und das Gefängnis seines Alleinseins.) Erich Fromm: The Art of Loving (amazon)

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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 2.12.2023

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