Wieder mehr Psychotherapie in der Psychiatrie – eine Erinnerung an Bertram Karon

Auf Bluesky (19.11.23) sah ich die erfreuliche Nachricht, dass „mehr Psychotherapie in der Psychiatrie“ eine der Forderungen auf dem 43. Deutschen Psychotherapeutentag #DPT43 war. Ich selbst finde es oft schwer zu hören, wie Patienten und Patientinnen in der Psychiatrie, die wirklich versuchen, ihre Psychose zu verstehen, rasch auf Diskussionen um die Medikamenteneinnahme eingebunden werden. Ich habe erlebt, wie Patienten, die von einem nächtlichen Alptraum berichteten, nicht nach dem Inhalt des Traumes befragt wurden, sondern direkt eine Erhöhung der Medikamentendosis erhielten. Es ist so schade, dass uns eine Zeitlang das Bewusstsein für die psychischen Vorgänge hinter der Psychose abhanden gekommen waren und schön, zu beobachten, dass sich Einiges tut. Schon der Psychoanalytiker Bertram Karon (1930-2019) fand im Jahr 2003 deutliche Worte für den schlimmen Zustand, dass Psychotiker zu wenig Therapie erhalten: The tragedy of schizophrenia without psychotherapy. Ich habe das Abstract hier frei übersetzt:

(Abstract frei übersetzt und gekürzt von Voos:) Bertram Karon: Die Tragödie der Schizophrenie ohne Psychotherapie: „Wohl jeder, der Frieda Fromm-Reichmanns ‚Übertragungsprobleme bei der Schizophrenie‘ (Transference Problems in Schizophrenics) gelesen hat, wird zu einem neuen Denken über die Schizophrenie finden.“

„Ihre (Frieda Reichmanns) Texte machen klar, dass Schizophrenie eine menschliche Erfahrung mit Bedeutung ist. Der Sinn ist oft schwer aufzudecken. Es braucht Geduld, Freundlichkeit und Toleranz für das eigene Nicht-Verstehen sowie für die verzweifelten Abwehrmechanismen des Patienten. Es braucht einen Willen, das menschliche Sein an seinem schmerzhaftesten Ende zu verstehen. Man sollte psychoanalytische Ideen ernst nehmen, die von den Patienten selbst kommen. Menschen mit Schizophrenie zu verstehen, bedeutet, Fakten über uns selbst, über unsere Familie und die Gesellschaft, von denen wir eigentlich nichts wissen wollten, wieder anzuschauen. … Viele Familien und Professionelle setzen jedoch auf Behandlungen, die den Patienten zu einem lebenslangen Krüppel machen, der nicht zu sehr stört.“

„Psychoedukationsprogramme, die eigentlich hilfreich sein könnten, geben oft einseitige Informationen, die die Lage der Patienten und ihrer Familie verschlimmern.“ Bertram Karon, 2003

… „Langzeitstudien zeigen, dass sich ein Drittel der schizophrenen Patienten und Patientinnen innerhalb von 25 Jahren vollständig erholen. Ein weiteres Drittel findet mit oder ohne Behandlung ins gesellschaftliche Leben zurück. Mit psychotherapeutischen Behandlungen vor der Ära der Neuoleptika konnten herausragende Ergebnisse erzielt werden. Doch heute nutzen wir sie einfach nicht.“

„Karon beschreibt, wie erlebter Terror Symptome produzieren kann und wie man diese Symptome einschließlich Wahnvorstellungen und Halluzinationen psychotherapeutisch behandeln kann.“ (Abstract zu The tragedy of schizophrenia without psychotherapy von Bertram Karon (2003), frei übersetzt von Voos)

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Links:

Bertram P Karon (2003):
The tragedy of schizophrenia without psychotherapy
doi: 10.1521/jaap.31.1.89.21931
The Journal of the American Academy of Psychoanalysis and Dynamic Psychiatry,
2003 Spring; 31(1): 89-118.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/12722890/

Frieda Fromm-Reichmann (1939):
Transference Problems in Schizophrenics.
The Psychoanalytic Quarterly, Vol. 8, 1939, Issue 4: Pages 412-426, Published online: 10 Dec 2017
https://doi.org/10.1080/21674086.1939.11925399
https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/21674086.1939.11925399
„We think of schizophrenic as a person who has had serious traumatic experiences in early infancy at a time when his ego and its ability to examine reality were not yet developed.“ (Frieda Fromm-Reichmann, S. 412)

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 20.11.2023

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