Warum Gedanken ernstgenommen werden wollen

„Machen Sie sich klar, dass Ihre angsterfüllten Gedanken nichts als Gedanken sind.“ Dieser Satz beruhigt meistens nur begrenzt, denn die Entstehung von Gedanken ist ein ganzheitliches Geschehen. Es gibt verschiedene Arten von Gedanken und es gibt verschiedene Arten von Gefühlen. Gedanken und Gefühle können auf unterschiedlichste Weise miteinander verbunden sein. Gedanken entstehen häufig aus Körperempfindungen heraus.
Es ist ähnlich wie im Traum: Wir träumen vielleicht von Wasser, weil unsere Blase voll ist. Unsere volle Blase hat in uns also die Traumbilder und Gefühle von Wasser entstehen lassen. „Gedanken“ an Wasser wurden wachgerufen. Unser Körper ist das Objekt, das in uns die Fähigkeit zur Symbolisierung weckt. Unser Magen fühlt sich bei Ärger und Sorgen an „wie ein Stein“, unser Rücken scheint „Stock-gerade“ zu sein. Diese Begriffe fallen uns als Reaktion auf unsere Körpergefühle ein.
Für unsere Körperempfindungen finden wir viele Symbole und die Symbole lassen sich weiter ausspinnen zu Gedanken. Wenn ein Angstpatient plötzlich „denkt“, dass er Angst hat und dazu katastrophale Bilder entwickelt, dann kann der Ausgangspunkt für diese „Gedanken“ im Körper liegen. Es handelt sich weniger um ein Angstgefühl mit entsprechenden Gedanken, sondern eher um einen wortlosen Zustand. Auslöser war vielleicht ein Körpergefühl des Eingeengtseins oder eine bestimmte Körperhaltung, die an unangenehme frühere Situationen erinnert. Oder der Betroffene ist müde oder er hat etwas gesehen, worauf er mit vorbewussten Gedanken reagiert hat, die dann Übelkeit und Panik auslösten.
Es ist wichtig, sich den Ursprung der Gedanken anzuschauen, denn die quälenden Gedanken sind wie Schmerzen: Sie weisen auf etwas Beschädigtes oder Beschädigendes hin und können nicht einfach abgetan werden.
Wachen und Schlafen
Ähnlich wie Traumgedanken sind Wach-Gedanken auch eine Frage des Bewusstseins: In der ersten Nachthälfte, wenn wir tief schlafen und das Bewusstsein „komplett“ ausgeschaltet ist, haben wir intensive Träume, die uns ganz und gar einnehmen. In den frühen Morgenstunden, wenn sich wieder mehr Bewusstsein dazu mischt, können wir luzide träumen und unsere Träume teilweise steuern. So können wir bewusstseinsferne und bewusstseinsnahe Gedanken haben.
Gedanken brauchen auch einen Gedanken-Raum, in dem sie gedacht werden können. Außerdem tragen wir immer auch „unreife“ psychische Elemente in uns, die sogenannten „Beta-Elemente“, die noch nicht „gedacht“ werden können.
Wann immer wir uns „so komisch fühlen“ oder etwas nicht in Worte fassen können, wenn wir uns innerlich bedroht fühlen und dem Zustand keinen Namen geben können, dann werden wir unserer „Beta-Elemente“ gewahr. Diese unreifen Elemente, sozusagen noch nicht geformte Gedanken, sind für uns oft schwer beunruhigend. Sie müssen erst – zum Beispiel durch Nachdenken oder durch Gespräche mit anderen – in „Alpha-Elemente“ umgewandelt werden. Das heißt, wir können erst nach der Umwandlung darüber sprechen, wir können uns dann erst selbst besser verstehen, Zusammenhänge herstellen und über weiter über uns nachdenken.
Transformation von Beta- zu Alpha-Elementen bedeutet: Aus dem diffusen „Irgendwas“ wird etwas Fassbares, aus dem chaotischen Zustand werden Worte und Wortgedanken, sodass wir unser Innenleben wieder mit anderen teilen können.
Es gibt „reife und unreife“ Gedanken, klare und unklare, bewusste, bewusstseinsnahe und unbewusste Gedanken, Wort-, Bild- oder Musik-Gedanken, unbewusste Phantasien, Wahrnehmungen, Sinnesreize, Zukunftsvorstellungen, Tiefensensibilität, Repräsentanzen, Erinnerungen, Wissen, Zwangsgedanken und vieles mehr. Wenn zwei oder drei Menschen zusammen sind, entstehen zudem Gedanken, die dann „in der Luft“ liegen – in einer Gruppe können mehrere auf einmal sehr Ähnliches denken und es ist spannend, zu sehen, wer den Gedanken, der quasi „da draußen“ entstanden ist, zuerst „aufgreift“.
Mit den Gedanken ist es also sehr kompliziert. Natürlich können wir uns hier und da selbst mit unseren Gedanken verrückt machen oder aber auch beruhigen. Aber wir können es uns nicht zu einfach machen und sagen: „Es sind doch nur Gedanken.“ Gedanken sind hochkomplex und sind oft nicht die Verursacher von Leid, sondern ernst zu nehmende Folgen von Leid, die oft auch Verarbeitung möglich machen können.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 6.6.2019
Aktualisiert am 7.5.2023