
Ihm ist nicht zu helfen. Er ist ein böser Mensch, das zeigen seine nervösen, trüben Augen und sein erbarmungsloses Gesicht. Er hat so viel Schuld auf sich geladen, dass er sterben würde, würde man sich da herantasten. Er lebt neben mir. Er hat mein (inneres) Kind umgebracht. Wie lässt es sich leben, wenn nebenan der Mörder wohnt? Ich sitze ihm gegenüber. Dem Mörder. Er ist hoch-explosiv, gefährlich. Ich sage den anderen Bescheid, sie schauen kurz nach, aber sie können ihn nicht wirklich entschärfen. Sie zucken mit den Schultern und gehen wieder. Und ich sitze wieder da. Zusammen mit dem Mörder. Ich kann mich dabei nicht entspannen. Ich muss ihn im Blick behalten. Und in mir das ständige Gefühl des elektrischen Aufgeladenseins.
Ich könnte einfach den Raum verlassen und sagen: „Ich gehe woanders hin. Ich bin raus aus der Nummer. Mit mir nicht mehr. Ich will mit solchen Menschen nicht mehr zusammen sein.“ Doch das eliminiert den Mörder nicht. Er ist neben mir, in mir, ein Teil von mir; er ist in meiner Erinnerung, er ist mein malignes Objekt.
Manchmal schießt er in mir – er macht mir plötzlich Angst, schießt mir den Verstand weg, lässt mich alleine. Es ist zu viel. Ich fühle mich überwältigt. Und keiner da, der es auffängt. Manchmal kommt mir mein Körper dazwischen und mein Vorhaben wird getötet. Etwas in meinem Körper ist mein Mörder, er könnte jederzeit zum Krebs werden. Er wohnt in mir. Ich muss auf ihn aufpassen. Meine ich.
Wie kann der Mörder heilen? Wie kann das wütende Tier in einem zur Ruhe kommen? Was braucht dieses Tier, dieses Wesen, dieses randalierende, beißende, tobende Kind, dieser böse Mensch?
Er braucht Entlastung von Schuld, viel Bewegung, In-Ruhe-Gelassen-Werden, Anerkennung. Liebe kann ich nicht aussprechen, das geht noch nicht. Er braucht frische Luft und viel Platz. Er braucht Verständnis. Und viel Zeit, denn er kann nicht sprechen und Sprache nicht verstehen.
Er kam nicht so auf die Welt. Er wurde verrückt gemacht. Entschärfen lässt er sich nur durch Verstehen. Und auch er kämpft. Auch in ihn ist ein Mörder eingezogen, als er klein war.
Ich kann mich ihm nicht überlassen wie einer Naturgewalt. Ich muss ihn kontrollieren. Ich muss ihn bemuttern, beruhigen, füttern, umhegen. Und so bleibt uns nichts anderes übrig, als uns angespannt gegenüber zu sitzen. Meine ich.
Doch manchmal, da kontrolliere ich ihn nicht. Ich weiche zurück und lasse ihn ausbrennen, ins Leere laufen. Manchmal, da ist er weg. Einfach weg. Wie kommt das?
In dieser Geschichte möchte ich darstellen, wie sich so manch frühtraumatisierter Mensch fühlt. Wenn man als Kind von der Mutter/vom Vater gewaltsam angegriffen wird, geht die Welt unter.
Inspiriert zu dieser Geschichte hat mich ein Dokumentarfilm auf arte über Morde in Indonesien, wo eine Mutter eines getöteten Kindes ein paar Häuser vom Mörder entfernt wohnte (The Look of Silence, siehe Sennhausers Film-Blog). Inspiriert haben mich auch die von Gewaltopfern geschilderten Gefühle und die Geschichten der heute erwachsenen Kinder, die schon früh die Krankengymnastik nach Vojta erhielten. Und dann kommen manchmal „Traumatherapeuten“ daher mit Übungen zum „Wohlfühlort/Sicheren Ort“ und ich kann angesichts der Einfachheit und „Nicht-Passung“ oft nur den Kopf schütteln. Die Gefühle und psychischen Zustände der Betroffenen sind so dermaßen komplex, dass sie sich nur schwer beschreiben lassen. Manchmal versuche ich es.
Was hilft?
Das Einzige, das aus meiner Sicht hilft, ist jahrelange, geduldige Arbeit und eine Kombination aus verschiedenen Dingen. Eine Psychoanalyse kann helfen, denn in der Übertragung wird auch der Psychoanalytiker als potenzieller „Mörder“ erlebt, was dann bearbeitet werden kann. Das Problem bei früh, von den Eltern traumatisierten Menschen ist, dass sie nahestehende Menschen immer wieder als bedrohlich wahrnehmen. Weiterhin helfen der Kontakt zum eigenen „inneren Bösen und Guten“ (Neid, Eifersucht, Hass, Liebe, Zärtlichkeit etc.), zu den eigenen Bedürfnissen, gesunde Ernährung, Bewegung und Meditation (z.B. Yoga), ausreichend Ruhe, gesunde Luft, gute, emotionale Kontakte und das Erleben von Naturgewalten. Und immer wieder hilft nur das Akzeptieren des Nicht-Akzeptablen.
Donald Winnicott:
„It must be conceded, however, that there are very roughly speaking tow kinds of human being, those who do not carry around with them a significant experience of mental break-down in earliest infancy and those who do carry around with them such an experience and who must therefore flee from it, flirt with it, fear it, and to some extent be always preoccupied with the threat of it. It could be said, and with truth, that this is not fair.“
The Psychology of Madness: A Contribution from Psycho-Analysis
A paper prepared for the British Psycho-Analytical Society, October 1965
„Man muss sich jedoch eingestehen, dass es grob gesagt zwei Arten von Menschen gibt: Solche, die kein bedeutsames Erlebnis eines psychischen Zusammenbruchs in der frühesten Kindheit mit sich tragen und solche, die ein solches Erlebnis mit sich tragen und die daher vor ihm fliehen müssen, mit ihm flirten müssen, es fürchten müssen und die bis zu einem gewissen Grad immer mit der Bedrohung beschäftigt sind, die von ihm ausgeht. Man könnte wahrhaftig sagen: Das ist nicht fair.“
(Dank an eine Freundin für den Hinweis auf Winnicotts Beitrag.)
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 4.5.2019
Aktualisiert am 9.6.2021
Bei der VG-Wort registriert.
Dunja Voos meint
Wie schön ausgedrückt: „gesund lieben“ – Danke :-)
Anonym meint
Es ist genau so. Manchmal ist es auch kein Mörder – sondern etwas, das quält, gar kein Mensch mehr aus der Vergangenheit, sondern einfach eine Qualität, in Form von Verrücktheit, Verlassenheit und Schmerz – etwas, das zwar schon sehr verstanden und bearbeitet ist, aber sich immer wieder zeigt.
Wie eine zwanghafte Besucherin
Ich kann sie nur noch gesund lieben und jeder Kampf macht es schwieriger!