
Kleine Babys wirken manchmal wie Monster: Sie attackieren die Brust ohne Rücksicht auf die Mutter als Person. Wenn sie hungrig sind, kennen sie kein Erbarmen. Bei der Mutter kann diese Situation bewusst oder unbewusst Angst hervorrufen. Sie wissen, welch große Bedeutung sie für das Baby haben, sie fühlen sich aber auf einer Ebene auch als Person „nicht gesehen“. Mütter befriedigen meistens wie selbstverständlich die Bedürnisse des Babys. Das drängende „Es“ des Babys mit seinen Trieben kommt auf die Mutter zu.
Die Mutter füttert das Baby, sie hält, wiegt und wärmt es und sie gestaltet den Raum des Babys. Sie wird vom Baby möglicherweise weiterhin als etwas Umhüllendes erlebt: Sie ist eine „Umwelt-Mutter“ (Environmental Mother, Begriff geprägt von Donald Winnicott). Und auch als Erwachsene können wir eine Umgebung als „mütterlich-warm“ und als „wie ein Zuhause“ erleben. Vielleicht ist deswegen die Küche oft der gemütlichste Ort im Haus, weil die „Trieb-Befriedigung“ (das Essen), die Wärme (die Umwelt) und das Zusammensein mit anderen (den Objekten) hier zusammenkommen.
Die haltende Mutter im frühen Baby-Leben wird in der #Psychoanalyse die „Umweltmutter“ genannt. Späterhin wird die Mutter zur „Objektmutter“, also sie wird als Ganzes, als äußere Person vom Baby erkannt (nach #Winnicott).
Anfangs umgibt die Mutter das Baby häufig noch so nahtlos, dass sich das Baby fast noch so fühlen mag wie im Uterus, wo es von der Bauchwand der Mutter umgeben wurde. Mit der Zeit lernt das Baby die Mutter als abgegrenzte Person mit Grenzen kennen. Die Mutter ist mal da, mal weg, mal müde, mal wach. Mehr und mehr ist sie nicht mehr nur das „Teil-Objekt Brust“ – ihr Gesicht, ihr Blick und schließlich ihr ganzer Körper und ihr ganzes Wesen wird zu einer „ganzen Person“. Sie wird zur „Objekt-Mutter“, die nicht nur zur Wunscherfüllung da ist, sondern die die Realität widerspiegelt. Mit der Umwelt-Mutter kann das Kind angenehme, aber auch höchst unangenehme Erfahrungen machen. Mit der äußeren „Objekt-Mutter“ kommen neue, gute wie schmerzliche Erfahrungen hinzu.
Die Begriffe „Umweltmutter“ und „Objektmutter“ wurden von dem Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott geprägt. Das gesunde Kind kann die „Objektmutter“ und die „Umweltmutter“ innerlich zusammenführen. Es sieht dann die ganze Mutter als Person und bemerkt auch, dass diese Mutter beruhigen und die optimale Umwelt schaffen kann.
„Ein Aspekt der Mutter-Kind-Beziehung beinhaltet die Beziehung zur Mutter als Umwelt (die Mutter als Halt gebende Umwelt), der andere beinhaltet die Beziehung zu der Mutter als Objekt (Winnicott, 1963b). Anfangs wiegt der erste Aspekt bei Weitem schwerer als der letztere. (Thomas Ogden: Frühe Formen des Erlebens. 2006 Psychosozial-Verlag, S. 117)
Sobald das Kind die Mutter als getrenntes Objekt erkennt, entwickelt es auch die „Fähigkeit zur Besorgnis“ (Capacity for Concern), wie Winnicott es nannte.
Die Lebensgier
Gerade die anfängliche „Gier“ des Babys kann beängstigend sein. Vätern fällt es unter Umständen auf, dass die Mutter Angst hat vor dem Baby. Manche Väter können es liebevoll und verstehend handhaben, andere werfen es der Mutter vor: „Du hast ja Angst vor Deinem Kind!“ Doch die Angst der Mutter vor dem Baby ist nichts Ungewöhnliches. Es ist etwas Natürliches – so, wie nicht wenige Mütter gleich nach der Entbindung auch Angst vor ihrem Neugeborenen haben. „Habe ich da ein Monster geboren?“, fragen sie sich.
Sich Zeit nehmen und Zeit geben
Die Beziehungs-Entwicklung zwischen Mutter und Kind braucht Zeit. Ängste gehören dazu und sind am Anfang oft besonders groß. Auch bei der postpartalen Depression spielen sie eine Rolle. Manchmal vergehen die Ängste, manchmal verändern sie ihre Form. Einige Jahre später hat man es auf einmal mit „pubertierenden Monstern“ zu tun, die einem „die Haare vom Kopf fressen“. Die Mütter wiederum können den Kindern Angst machen – weil sie so einen enormen Einfluss haben und weil die Kinder lange Zeit komplett abhängig von ihnen sind. Wichtig ist es, diese Ängste wahrzunehmen, sie sich bewusst zu machen und sie nach Möglichkeit mit anderen zu besprechen.
Die frühen Erfahrungen mit unserer Mutter prägen uns ein Leben lang – das ist unser Glück oder unser Unglück. Die Mutter wird im Laufe des Lebens zum „stillen Hintergrund objektbezogenen Erlebens“ (Ogden, 1989, 2006). Im Idealfall hat sie uns in unseren frühesten Lebensphasen einfühlsam genährt, berührt und beruhigt. Thomas Ogden schreibt, dass die Mutter „den Bedürnissen des Kindes so behutsam und unauffällig nachkommt, dass sie selbst kaum bemerkt wird“ (Ogden, 2006, S. 118).
Hier verweise ich auf die aus meiner Sicht lebenslang schädlichen Einflüsse der frühen Vojta-Therapie (englisch: Reflex Locomotion Therapy), bei der die Mutter als enorm invasiv erlebt wird – sie wird zu früh als ein äußeres, unbeherrschbares Objekt wahrgenommen, wobei der Säugling durch die Qual zu früh ein „Ich“ und eine Sprache entwickelt. Dies kann dazu führen, dass das Kind später immer wieder Phasen durchläuft, in denen es eine „hypertrophe Subjektivität“ erlebt. Der als Baby nach Vojta behandelte Heranwachsende spürt sich selbst so stark, dass es sich extrem unangenehm anfühlt (siehe: Ich-Attacken).
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Linktipp:
Girard, Martine (2010):
Winnicott’s foundation for the basic concepts of Freud’s metapsychology?
Int J Psychoanal 2010 Apr; 91(2): 305-324.
doi: 10.1111/j.1745-8315.2009.00228.x
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/20536855/
„Winnicott attempts to theorize what Freud takes for granted: the function of the holding environment as a framework for id-experiences and the function of object-presenting as a condition of reality-testing. Furthermore, by differentiating between pure male and pure female elements, he is also able to construct a highly speculative theorization in order to distinguish two basic principles: doing and being.“
(Girard, Martine 2010)
Winnicott, Donald W (1963):
Communicating and not communicating leading to a study of certain opposites.
In: The Maturational Processes and The Facilitating Environment, S. 179-192
New York: International Universities Press, 1965.
OxfordClinicalPsychology.com
Ogden, Thomas (1989):
The Primitive Edge of Experience.
Paterson Marsh Ltd. and Jason Aronson Inc.
Ogden, Thomas (2006):
Frühe Formen des Erlebens.
Psychosozial-Verlag 2006
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 27.10.2015
Aktualisiert am 13.10.2021
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