
Auch, wenn man es vielleicht nicht will: Manchmal macht sich ein Gefühl von Verachtung breit. Man hebt den Kopf und schaut von oben auf den anderen herab. Doch was für ein Gefühl ist das eigentlich? Verachtung ist eher ein Gefühlsgemisch. Es mag sich unterschiedlich zusammensetzen. Oft ist der Wunsch nach Distanzierung dabei – kalt lässt man den anderen links liegen und tut so, als sei er Luft.
Es kann sich aber auch Ärger unter die Verachtung mischen. Manchmal hätte man sich vielleicht gewünscht, man hätte sich dem anderen hingeben können, doch nach genauerer Prüfung ist man enttäuscht, dass es nicht möglich ist, z.B. weil der andere Alkoholiker oder auf andere Weise „schwach“ ist. Man verachtet vielleicht den Vater, wenn er „zu weich“ ist.
Es geht um „hoch“ und „tief“. Einer schämt sich, der andere verachtet ihn dafür.
Verachtung in engen Beziehungen
Verachtung tritt häufig in engen Beziehungen auf. Insbesondere, wenn man sich von jemandem wider Willen abhängig fühlt, kann Verachtung als Abwehr der Abhängigkeit auftreten. Das englische Wort für Verachtung ist „contempt“, das sich zusammensetzt aus „con“ = „mit“ und „temptation“, also „Versuchung, Verlockung“. Wenn man jemanden verachtet, ist man mit ihm möglicherweise verstrickt und hat sich – vielleicht wider Willen – auf seine verführenden Signale eingelassen.
Verachtung. Englisch: contempt (to tempt = verlocken), disdain, scorn, odium (odium, lateinisch: Hass). Bei starker Verachtung kann ein Lächeln hinzukommen. Dann ist der Hass ganz nah.
Hochmut und Fall hängen zusammen
Ein anderer englischer Begriff für „Verachtung“ ist „Disdain“, was ebenso „Hochmut“ bedeutet. Hochmut und Arroganz sind ein Teil der Verachtung. Manchmal ist es auch Neid. „Ich spucke auf Dich“, könnte man bei der Verachtung denken. Man fühlt sich höher als der andere, aber das Gefühl ist vielleicht nicht echt, das spürt man. Eigentlich beneidet man den anderen vielleicht.
Bei der Verachtung ist irgendwo eine Verletzung und Enttäuschung mit im Spiel. Möglicherweise ist da auch ein Gefühl von Trennung, nachdem man sich zuvor auf’s Engste mit dem andere verbunden fühlte. Plötzlich ist der andere, dem man so nahe war, ganz anders als man es sich gewünscht hätte – tiefe Enttäuschung macht sich breit.
Bei einem Abhängigkeitsverhältnis wie z.B. zwischen Kindern und Eltern, kann sich auch ein Schrecken hinzumischen, weil man denkt: „Was, von diesem Menschen bin ich abhängig?“ Sobald Kinder ihre Eltern wirklich „erkennen“ können, strafen sie als Jugendliche die Eltern durch Verachtung.
In der Ohnmacht können Kinder auch Allmachtsphantasien entwickeln. Sie haben dann das Gefühl, sie hätten die Fäden in der Hand. Zum Beispiel können verlassene, vernachlässigte und missbrauchte Kinder den alkoholisierten Vater „verführen“ wollen („Missbrauch ist besser als gar keine Aufmerksamkeit“) und verachten ihn dann zutiefst, wenn er sich „verführen lässt“. In Wirklichkeit haben sie jedoch kaum Einfluss auf das Gesamtgeschehen – sie sind selbst Opfer.
Verachtung kann aber auch entstehen, wenn man jemanden verführen will und er sich eben nicht verführen lässt. Dann ist Scham die Folge. Verachtend denkt man dann: „Dieser Schlappschwanz.“ Die Verachtung ist dann die Abwehr der Scham. Wenn es ein Lehrer ist, der sich nicht verführen lässt, dann ist er eben ganz und gar kein „Schlappschwanz“, sondern eben ein verantwortungsvoller Mann.
Ein Wechselspiel aus Scham und Verachtung
„Komisch, immer wieder verachte ich meinen Mann, obwohl ich das gar nicht will“, sagt eine Frau. Sie ist zutiefst irritiert. Doch es stellt sich heraus, dass der Ehemann eine Scham mitbringt, die tief in ihm steckt. Immer wieder wurde er von seinem Vater erniedrigt und nun ist die Scham für ihn ein häufiger Begleiter und ein altbekanntes Gefühl, das immer wieder auftaucht. Die Frau reagiert darauf mit Verachtung – es ist also ein „Gegenübertragungsgefühl“, das zu den alten Verhältnissen passt, in denen der Mann lebte.
Es kann jedoch auch sein, dass die Frau aus einer Familie stammt, in der „Schwäche“ verachtet wurde. So kann es kommen, dass „Schwäche“ in ihr generell das Gefühl der Verachtung hervorruft.
Jemand, der sich seiner selbst schämt, wurde vielleicht einmal verachtend angeschaut. Der andere erhält dann in der Beziehung sozusagen die Rolle des Verachtenden. Man kann jemanden verachten dafür, dass er sich selbst verachtet.
Wenn ich selbst verachtet werde, ist das ebenfalls ein höchst irritierendes Gefühl. Manchmal ist es eine Projektion: Eigentlich verachte ich den anderen, will das aber nicht bemerken und habe dann das Gefühl, der andere verachtet mich. Wenn der andere mit seiner Verachtung meinen wunden Punkt trifft, fühle ich mich beschämft. Ich kann jedoch auch wütend werden darüber, dass der andere mich verachtet. Oder aber es macht mich neugierig, weil ich seine Verachtung feststelle, ohne dass sie mich trifft.
Verachtung als Abwehr
Verachtung ist auch ein „verdrehtes“ Gefühl. Es entsteht oft aus einem Gefühl, das man nicht wahrhaben möchte. Manche alte Frauen verachten junge Mütter, weil sie den Schmerz der eigenen Kinderlosigkeit oder den Schmerz des Alters nicht fühlen wollen. Hier hängen Verachtung und Neid sehr stark zusammen.
Verachtung kann auch entstehen, wenn man bei sich selbst den Wunsch verspürt, sich dem anderen hinzugeben und man diesen Wunsch abwehrt. „Ach – was sollte ich denn von dem wollen?“, denkt man sich. „Der ist doch eh nichts wert.“
Verachtung und Schizophrenie
„Dieser Affekt (Anm.: Verachtung) bedeutet für die Beziehungsregulation eine Distanzvergrößerung gegenüber dem Partner. Interessanterweise haben zwei psychoanalytische Forscher, nämlich Fairbairn (1952) und Searles (1965) die Bedeutung von Verachtung bei schizophrenen Patienten besonders betont. Beide verstehen den Affekt Verachtung bei schizophrenen Patienten als Abwehrversuch gegen infantile Abhängigkeitswünsche.“*
(Evelyne Steimer-Krause: Nonverbale Beziehungsregulation in Dyaden mit schizophrenen Patienten – ein Betirag zur Übertragungs-Gegenübertragungsforschung. In: Die Psychoanalyse schwerer psychischer Erkrankungen, Verlag pfeiffer, München 1994: S. 219, später: Psychosozial-Verlag)
*Anmerkung (Voos): Wenn man als Kind von „schlechten Eltern“ abhängig war, hat man immer wieder die Erfahrung gemacht: „Sobald ich mich ankuscheln möchte oder mich als hilflos zeige, merke ich, dass ich meinen Eltern nicht vertrauen kann. Sie sind betrunken, sie schlagen mich, sperren mich ein, lassen mich allein.“ Dann führt der spätere Wunsch nach Regression gleich zu dem Gefühl: „Der andere ist aber ein Versager und das merke ich ganz besonders, wenn ich mich schwach fühle.“ Dann kommt die Verachtung. So jedenfalls könnte es sein.
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Links:
Léon Wurmser, MD:
Shame and its Vicious Cycles
Prague, IPA Meeting 2013.
Kongresspapier
Anders Zachrisson:
Contempt and self-contempt
From the analysis of a 10-year-old boy
The Scandinavian Psychoanalytic Review
Volume 22, Issue 2, 1999, Published online: 21 Jan 2013
DOI:10.1080/01062301.1999.10592705
http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/01062301.1999.10592705#.VJSGuF4AJM
Visual Emotion – Facial Action Coding System (FACS)
http://www.facscodinggroup.com/universal-expressions
Alberto Moravia
Il disprezzo
http://www.dieterwunderlich.de/Godard-verachtung.htm#kritik
http://books.google.de/books/about/Il_disprezzo.html
Dieser Beitrag erschien erstmals am 19.12.2014
Aktualisiert am 9.11.2021
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