Paranoid-schizoide und depressive Position (PS-D): nach der Starre kommen die Tränen

Wenn du im Rechtsstreit bist, wenn du dich ungerecht behandelt fühlst, wenn du im eisigen Schweigen mit dem Menschen bist, der Dir so wichtig ist, dann bist du in der „paranoid-schizoiden Position“ – einem Zustand, in dem du verhärtet bist. Und obwohl du so gerne von deinem Feind, vom Täter, getrennt wärest, so spukt er dir doch die ganze Zeit im Kopf herum. Du fühlst dich regelrecht von ihm verfolgt. Deine Freunde spalten sich: „Ach, lass ihn doch“, sagen die einen, „Das kannst du nicht auf dir sitzen lassen!“, sagen die anderen. Aus der verkrampften Zweiersituation hilft nur noch etwas Drittes, zum Beispiel ein wohlwollender Anderer oder die Beschäftigung mit einem eigenen Projekt.
Die Psychoanalytikerin Melanie Klein (1882-1960) hat die Begriffe „paranoid-schizoide Position“ und „depressive Position“ geprägt (1946: Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen, The Journal of Psychotherapy Practice and Research, 1996). Mit „Position“ ist ein psychischer Zustand gemeint, den wir ein Leben lang immer wieder einnehmen. Wir pendeln zwischen paranoid-schizoider und depressiver Position hin und her. Mit „paranoid-schiizoider“ und „depressiver Position“ waren ursprünglich Entwicklungsstadien gemeint, die wir als kleine Kinder besonders intensiv durchliefen.
Melanie Klein ging davon aus, dass wir als Baby immer nur einen Teil unserer Mutter wahrnahmen: Sie war der Mensch, der gut roch, der uns beruhigte und nährte, aber auch der Mensch, der uns zu Dingen zwang, die wir nicht wollten: Wir wurden manchmal gegen unseren Willen gewickelt oder ins Bett gelegt. Erst später konnten wir die Mutter als „ganzen Menschen“ erkennen, also zum Beispiel ihre Bedürfnisse und Grenzen der Kraft sehen.
Als wir noch sehr abhängig waren von unserer Mutter, fühlten wir uns aufs Engste verbunden mit ihr – manchmal sogar wie Eins mit ihr. Wir konnten uns selbst nur minimal regulieren und wenn wir wütend waren, so konnten wir auch unsere Mutter „wütend machen“ oder nahmen sie als wütend wahr, obwohl sie vielleicht nur ernst blickte. Melanie Klein sagte, dass das Baby seelische Teile von sich selbst, z.B. Wut, auf die Mutter projziere. Das Baby fühle sich jedoch direkt nach der Verlagerung seiner Gefühle in die Mutter von der Mutter verfolgt, weil es glaube, die Mutter würde sich dafür rächen, dass das Baby sie wütend gemacht habe.
Wenn wir unsere eigenen bösen Absichten in einen anderen projizieren, dann spüren wir, dass das Eigene quasi wieder zu uns selbst zurück will. Wir versuchen, das Böse im Anderen zu kontrollieren und haben gleichzeitig auch eine oft unbestimmte Angst, weil wir irgendwie fühlen, dass das Böse nicht unbedingt (nur) beim anderen ist. Wir fühlen uns auf gewisse Weise „paranoid“. Die reale Aussenwelt spielt kaum noch eine Rolle, wir sehen uns nur noch in Bezug auf den anderen. Diese Position bezeichnete Melanie Klein als „paranoid-schizoide Position“ – sie besteht dieser Theorie nach während der ersten vier bis sechs Lebensmonate besonders stark.
„Kann ich helfen?“ – „Nein! Wir wollen uns in Ruhe streiten!“
Der Schritt zur „Depressiven Position“ ist ein Reifeschritt
Wie lange der Kampf und das Ineinander-verbissen-Sein dauert, hat oft seine eigenen Gesetze. Irgendwann merken wir, dass die magnetische Wirkung des Streits nachlässt und wir herausgehen können. Wenn wir unseren Partner nach langen, leidvollen Zeiten verlassen haben, merken wir, wie wir wieder langsam zu uns selbst finden. Manchmal erst nach Jahren können wir sehen, wo wir auch selbst dem anderen weh getan haben. Wir können vielleicht auf einmal den anderen besser verstehen – auch im Zusammenhang mit seiner Lebensgeschichte. Manchmal verklären wir sogar die Vergangenheit und wollen den Kontakt zum anderen wieder aufnehmen. Manchmal ist das auch ein Zeitpunkt der Versöhnung. Wir spüren vielleicht Reue.
Die schizoid-paranoide Position findet ihr Ende und wir kommen in die „depressive Position“. Wir fühlen uns wieder mit uns selbst verbunden und können uns wieder „dem Dritten“ zuwenden: Unser Kopf wird freier für die Arbeit und in Gesprächen mit anderen finden wir wirklichen Trost. Wir fangen vielleicht an, zu trauern. Gefûhle von wirklicher Trennung, Schuld, aber auch Dankbarkeit können auftauchen. Endlich können wir vielleicht das Vergangene beweinen – wir werden auf eine gewisse Art „depressiv“ (in der Sprache Melanie Kleins). Bei Babys kann man manchmal erkennen, wie das manchmal undifferenzierte Schreien sich differenziert und das Baby oder Kleinkind irgendwann Tränen der Trauer weint.
Der Wechsel zwischen paranoid-schizoider Position (PS) und depressiver Position (D) geschieht in Beziehungen ein Leben lang. Es gibt sozusagen ein ständiges „Oszillieren“ zwischen diesen beiden Positionen (PS-D), fast wie Ein- und Ausatmen. Während wir in einem Moment noch „blind vor Wut“ sind, bereuen wir nach einiger Zeit auch unser Verhalten, das oft aus der Not entstanden ist. Wir wachen auf und sind getrennt vom anderen in der depressiven Position. Wir können dann den anderen wieder sehen, spüren und realistischer einschätzen. Manche sagen: Wir kommen aus unserer Opferrolle heraus. Doch es ist nicht immer leicht, einzuteilen, wer Opfer und wer Täter ist. Jeder ist verletzt.
Wenn wir Opfer werden, verhalten wir uns in der Folge manchmal selbst so, dass wir den anderen schwer verletzen. „Er hat’s ja auch verdient!“, sagen wir. Wir sprechen von Schuld, Bestrafung, Gerechtigkeit und Rache. Wir sehnen uns nach einem emotionalem Ausgleich, nach irgendetwas, das kommen möge, damit wir aufatmen können.
Irgendwann merken wir vielleicht, dass wir den emotionalen Ausgleich nicht so ganz finden können und dass unsere Angriffe auf den anderen letztlich wieder zu uns selbst zurückkommen. Wir resignieren vielleicht ganz bewusst und entscheiden uns zum „Lassen“. Doch in der depressiven Position gelingt es uns auch, das „Oben und Unten“ etwas aufzulösen. Wir sehen uns wider mehr auf einer Ebene mit dem anderen. In der paranoid-schizoiden Position waren wir kaum ansprechbar und „vernünftigen Argumenten“ kaum zugänglich. Doch jetzt fühlen wir uns wieder freier.
Diktatoren sind üblicherweise überwiegend in der paranoid-schizoiden Position.
Die schizoid-paranoide und die depressive Position sind nie ganz voneinander getrennt. Auch beim Erwachsenen überwiegt mal diese und mal jene Position als psychischer Zustand. Wurde unsere seelische Entwicklung stark gestört, befinden wir uns als Erwachsene zu großen Teilen noch in der paranoid-schizoiden Position. Wir erleben uns als nicht wirklich getrennt vom anderen – auch, wenn der andere aussen gar nicht mehr da ist, so besteht er als „inneres Objekt“ weiter in uns. Es kann passieren, dass wir von der (reiferen) depressiven Position wieder in die paranoid-schizoide Position verfallen, wenn die Schmerzen in der depressiven Position zu gross werden und wir damit alleine sind (siehe John Steiner, 2018: Seelische Rückzugsorte verlassen, Klett-Cotta).
Projektive Identifizierung
Besonders in einer Psychoanalyse wird deutlich, wie der Erwachsene in der „schizoid-paranoiden Position“ seine unerträglichen Gefühle sozusagen in den Analytiker hineinlegt. Diesen Abwehrvorgang nennt man „Projektive Identifizierung“. Der Patient hat seine Gefühle so in den Analytiker projiziert, dass der sich nun wirklich so fühlt, wie der Patient glaubt, dass er sich fühlt. Jetzt ist der Analytiker wirklich neidisch, angstvoll, wütend (was er an sich beobachten kann). Und nun fühlt sich der Patient in den Analytiker ein, er identifiziert sich mit ihm. Dieses „Einfühlen“ ist aber eine Art Rückführung auf die eigenen Gefühle, denn es ist ja die eigene Wut oder Angst, die der Patient im Analytiker wiederentdeckt.
Der Patient verhält sich jetzt so, dass er den Analytiker beruhigt, damit der nicht mehr „neidisch und wütend“ ist. Somit hat der Patient das Gefühl, er hätte die Gefühle von Neid und Wut aussen unter Kontrolle. Dieser Effekt kann so stark sein, dass sich der Analytiker tatsächlich neidisch und wütend fühlt. Der Analytiker fühlt sich auf einmal wie der Patient und kann sich wiederum mit ihm identifizieren. Das, was eigentlich zum Patienten gehört, ist auch „im Analytiker“. Dadurch können sich Analytiker und Patient sozusagen ohne Worte verstehen.
Angst vor Rache
Bei psychischen Störungen wie z.B. bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung kann diese Art der Projektion sehr extrem sein. Weil man aber irgendwie spürt, dass es eigentlich die eigene Wut ist, die sich im anderen zeigt, fühlt man sich verfolgt. Man hat Angst vor der Rache des anderen. Eigene Gefühle, die man abspaltet und in den anderen „hineinlegt“, wollen wie in einem Sog zu einem selbst zurück.
Wenn unser „Ich“ stärker wird und wir unsere eigenen Gefühle, Zustände und Gedanken besser ertragen, dann kommt es seltener zu solchen Vorgängen. Wir müssen dann den anderen nicht mehr so sehr benutzen, um unser inneres Gleichgewicht zu behalten.
Wir fallen im Laufe der Reifung in gewisser Weise vom Anderen ab. Wir fallen auf uns selbst zurück, stehen dann da, ganz allein, und können den anderen als „ganzen Menschen“ erkennen – so, wie er ist. Dann kommt das, was vielleicht den reiferen Menschen auszeichnet: Betroffenheit, Bedauern darüber, dass man den anderen so attackiert hat, Trauer über die Trennung, Schuldgefühle und Wünsche, die Verletzungen am anderen wiedergutzumachen.
So unangenehm die Gefühle auch sind – es sind wenigstens die eigenen
Gleichzeitig entsteht in der depressiven Position aber auch Freude über die Trennung und über die Entdeckung, dass man selbst ja auch ein „ganzer Mensch“ ist. Die Freude, die Trauer, die eigenen Gefühle und die Entdeckung der Trennung machen es möglich, die Beziehung zum anderen ganz neu aufzunehmen und Nähe herzustellen.
Mit zunehmender psychischer Reife spüren wir, dass die Person, die wir lieben auch immer eine Person ist, auf die wir leicht wütend werden können. Die Gefühle können als „Sowohl-als-auch“ akzeptiert werden.
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- Margaret Mahler: Die psychische Geburt des Menschen
- Kaltherzigkeit: „Und dann habe ich zugemacht!“ Aber wie mache ich wieder auf?
- „Borderliner und Narzissten manipulieren nur.“
Links:
klein, melanie, 1946:
Notes on Some Schizoid Mechanisms
the journal of psychotherapy practice and research,
1996 Spring; 5(2): 160–179.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3330415/
Klein, Melanie (1958):
On the development of mental functioning.
In: Envy and Gratitude and Other Works 1946-1963: S. 236-246
New York: Delacorte 1975
Karnac Books 1993
priscilla roth (ohne jahreszahl)
introduction to the works of melanie klein
chapter 3, pdf, tcf-website …
John Steiner:
Seelische Rückzugsorte verlassen
Therapeutische Schritte zur Aufgabe der Borderline-Position
Klett-Cotta, 2014
Paul Williams:
The Psychoanalytic Therapy of Severe Disturbance
Routledge, 2010
https://www.routledge.com/…
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15.8.2012
Aktualisiert am 2.3.2025
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5 thoughts on “Paranoid-schizoide und depressive Position (PS-D): nach der Starre kommen die Tränen”
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Für mich ist das angeblich paranoide das, was nicht stimmig ist. Sich in die eigene Position verrennen schützt davor, vom Gegner noch mehr untergebuttert zu werden.
Beispiel: Ich hatte mich für einen Kurs angemeldet, war dort bekannt, freute mich so riesig.
Am ersten Kursabend war ich da, stellte Fragen, plauderte hinterher mit den Kursleitern.
Dann kam e-mal: Man wäre sich nicht über meinen Betreuungsstatus im Klaren gewesen. Ich bettelte darum bleiben zu dürfen, bot sogar an, meine Betreuung auf zu lösen, vergeblich. Es hieß vom Leiter wortwörtlich: „Dann mache ich von meinem Hausrecht Gebrauch und werfe Sie raus.“ Es war vielleicht falsch, dies als generelles Hausverbot zu verstehen. Nur eine Klärung wurde von der Gegenseite nicht versucht. Ich soll seitdem in etwas reinmanipuliert werden, wo ich mittlerweile Todesangst habe. Weil die therapereutische Gegenseite in einem Machtkampf, den sie selber anzettelte IMMER gewinnen muss. Wie sagte der Anwalt nun vor Gericht „Sie sind die Böse.“ das wortwörtlich. Zum Urteilsspruch bin ich nicht mehr da.
Gerade der Fall in einem Rechtsstreit sein zeigt, daß dies Modell falsch ist. Das Hinzuziehen einer äußeren und höheren Instanz bedingt, daß man dieser dann auch ein Stück weit dienen muss. Der zu erbringende Vorwurf muss in einer Form erfolgen, daß dieser von einen anderen Instanz als „berechtigt“ wahrgenommen wird. „Gefühltes Unrecht“, „Gemeinheit“, Infamität“, „Hinterhältigkeit“, „absolute Hinterfozzigkeit“ nicht faßbar in Paragraphen. Und so gehts einem so häufig: Das, was da wirklich mies war, kann man oft nicht einmal verständlich machen. Das andere bleibt, daß ein „Einlenken“, allein ein Nachdenken, ob man nicht auch mit verantwortlich sei, usw. besonders vor Gericht als Schuldeingeständnis gesehen wird, im Alltag es oft auch dazu dient, einen klein zu machen. Aus Angst allein vermeiden das viele. Es macht einen verwundbar. Und abgesehen, das meist solcher Menschen sich Vorwürfe machen, die sowieso Probleme damit haben, andere anzugreifen: die Schachnovelle von Stefan Zweig zeigt wie Menschen, die Macht anwenden, mit anderen umgehen. Ich denke da beim „richtigen Umgang“ mit der Gewalt nur an Herrn K. und die Gewalt von Berthold Brecht.
Borderline-Persönlichkeiten sind ja sehr geschickt, wenn es darum geht, Gefühle nach außen zu projizieren. Die Außenwelt wird der inneren Gefühlswelt angepasst. Manchmal funktioniert dies so gut, dass die als Projektionsfläche benutzten Personen, diese Rolle sogar bereitwillig spielen, ohne zu merken, dass diese Stimmung nicht wirklich von ihnen stammt, sondern in sie hineingelegt wurde. Ich habe mich als Kind oft gefragt, was ich den falsches getan, falsches gesagt oder falsches gedacht habe, wenn ich als Projektionsfläche missbraucht wurde und mich in einer aufgezwängten Rolle wiederfand, die ich mir nicht erklären konnte und die mich extrem verwirrte.
Sehr geehrte Frau Voos,
vielen Dank für diese gut verständliche Beschreibung. Es ist bei jedem Patienten/jeder Patientin immer neu und spannend, die Entwicklungsprozesse vor dem Hintergrund dieser Überlegungen (theoretischen Einsichten und Gedanken) zu beobachten und zu begleiten.
Herzliche Grüße
Reiner Mahr