
„Jetzt könnte ich ihr die Brille von der Nase hauen“, denke ich. Meine Wut wächst, das „Es“, der Trieb, lässt mich zum Tier werden. Doch ich lächele freundlich und zeige meiner Kollegin nichts von meiner Wut. Mein strenges „Über-Ich“, das Gewissen, verbietet es mir. Aber zum Glück gibt ja noch das „Ich“, den Vermittler. Das „Ich“ kann austarieren und steuern. Ich muss der Kollegin nicht gleich die Brille wegschlagen, aber besonders freundlich brauche ich auch nicht zu sein. Ich verändere meinen Gesichtsausdruck und zeige Missfallen. Freundlich, aber bestimmt, sage ich meine Meinung.
Das Instanzenmodell
So könnte ein Dialog zwischen „Es, Ich und Über-Ich“ aussehen. Sigmund Freud hat die Theorie entwickelt, dass die Psyche aus diesen drei Instanzen besteht. Kämpfe zwischen diesen Instanzen können bewusst oder unbewusst ablaufen und zu unlösbaren Konflikten führen.
Dieses Modell von „Es, Ich und Über-Ich“ hat Sigmund Freud 1923 eingeführt.
Bewusst oder unbewusst?
Das Es „gehört ganz dem Unbewussten an“ (Elhardt). Das Ich und das Über-Ich sind zwar größtenteils bewusst – Anteile des Ichs und Über-Ichs können jedoch auch unbewusst sein. Zum Beispiel laufen manche Abwehrmechanismen des Ich unbewusst ab. Die Forderung nach Selbst-Bestrafung kann ein unbewusster Teil des Über-Ichs sein.
Dieses Modell von „bewusst“ (bw), „vorbewusst“ (vbw) und „unbewusst“ (ubw) war das erste topische Modell von Sigmund Freud („Topos“ = griechisch: „Ort“). „Vorbewusst“ heißt, dass uns etwas gerade unbewusst ist, wir aber durch Nachdenken Zugriff darauf haben. Beispielsweise ist uns vielleicht gerade nicht bewusst, wie unser rechter Fuß steht, aber wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, wird es uns bewusst.
Etwas später führte Freud das Instanzenmodell (Strukturmodell) von „Es, Ich und Über-Ich“ ein.
„Instanzenmodell (Strukturmodell)“ ist die Bezeichnung für das Gefüge „Es, Ich und Über-Ich.“
Das „topographische Modell“ steht für die Welten „bewusst“ (bw), „vorbewusst“ (vbw) und „unbewusst“ (ubw).
Sigmund Freud: „Die Scheidung des Ichs vom Es scheint gerechtfertigt, sie wird uns durch bestimmte Verhältnisse aufgedrängt. Aber anderseits ist das Ich mit dem Es identisch, nur ein besonders differenzierter Anteil desselben. Stellen wir dieses Stück in Gedanken dem Ganzen gegenüber, oder hat sich ein wirklicher Zwiespalt zwischen den beiden ergeben, so wird uns die Schwäche dieses Ichs offenbar. Bleibt das Ich aber mit dem Es verbunden, von ihm nicht unterscheidbar, so zeigt sich seine Stärke. Ähnlich ist das Verhältnis des Ichs zum Über-Ich; für viele Situationen fließen uns die beiden zusammen, meistens können wir sie nur unterscheiden, wenn sich eine Spannung, ein Konflikt zwischen ihnen hergestellt hat.“
Freud S: Hemmung, Symptom und Angst, Gesammelte Werke, Imago Publishing London, Werke aus den Jahren 1925-1931, Copyright 1948, Band 14: S. 124
„Wo Es war, soll Ich werden.“
Sigmund Freud (1933): Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Kapitel 3: Die Zerlegung der psychischen Persönlichkeit. 31. Vorlesung
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Literatur:
Siegfried Elhardt
Tiefenpsychologie
Kohlhammer Urban 2001: 32–36
Dieser Beitrag erschien erstmals am 20.2.2006
Aktualisiert am 7.6.2021
Dunja Voos meint
Lieber Herr Wilkat,
auch heute noch ist Freuds Instanzenmodell von „Es, Ich und Über-Ich“ aktuell. Natürlich hat sich die Psychoanalyse immer weiter entwickelt. Besonders wichtig in den psychoanalytischen Therapien heute sind die Erkenntnisse der Bindungsforschung. Ich werde einmal schauen, ob ich Literatur dazu finde, die beschreibt, wie sich die Psychoanalyse von ihren Ursprüngen bis heute entwickelt hat und werde sie dann an dieser Stelle nennen.
Viele Grüße
Dunja Voos
Robby Wilkat meint
Guten Tag Fr. Dr. Voos
Mich interessiert inwieweit das Freud’sche Modell noch aktuell ist.
Wissenschaftl. Erkenntnisse entwickeln sich weiter,gibt es hier Bereiche die man heute verwirft / was hat bis heute Gültigkeit / welche Arten von Modifizierungen / Weiterentwicklungen gibt es ? Welche Felder der ursprümlichen Theorie / welche aktuellen Entwicklungen dominieren die „therapeutische Szene“ und: Gibt`s überblicksartige Literatur dazu ? Danke Ihnen vorab !
VG
Robby Wilkat