
Da spielt einer eine Tonleiter und endet auf dem siebten Ton. Wir kennen dieses Gefühl, das durch unseren ganzen Körper geht: Wir wollen, dass das Ende erreicht wird. Der siebte Ton einer Tonleiter weckt das Gefühl der Unvollkommenheit. „Ich will aber unbedingt das Ende hören!“, möchten wir sagen. Wir fühlen oft, dass wir unbedingt das Ende erreichen wollen – besonders, wenn wir kurz vor Schluss sind. Das Körpergefühl dazu kennen wir aus der Sexualität: Kurz vor dem Ende ist es, als könnten wir nicht mehr aufhören.
Manchmal verfolgen wir Ziele mit einer Verbissenheit, die uns selbst schon „krank“ vorkommt. Wir fühlen uns, als müssten wir sterben, wenn wir nicht das erreichen, was wir uns vorgenommen haben. Viele Tragödien handeln davon, dass Menschen unbedingt etwas erreichen wollten – koste es, was es wolle. Und wenn das eigene Leben dabei drauf geht!
Wie kommt es, dass wir uns an einer Sache, die uns wichtig ist, so festbeißen können? Häufig geht es um tiefe Ängste und auch um frühe Körpergefühle. Schon als Baby wollten wir unbedingt geboren werden. Ein „Steckenbleiben“ oder das „Aufgeben“ hätte für uns den Tod bedeutet.
Im Krieg wollen Menschen unbedingt ihr Land zurückerobern, sie wollen ihre alte Grenze wiederhaben, sie wollen verbissen etwas einfordern. Wenn wir einen Beruf anstreben, wollen wir vielleicht unbedingt den Abschluss schaffen – manche nehmen sich das Leben, wenn sie scheitern. Wir wollen zu einem Verein gehören, wir wollen in die Gruppe der Freunde gehören – dafür tun wir alles.
Wir haben das Gefühl, dass es das Ende der Welt bedeutet, wenn wir unser Ziel nicht erreichen.
Nur noch Weite ohne Halt
Wenn wir unser Ziel nicht erreichen ist es, als fielen wir in eine weite, trostlose Welt zurück. In Heinrich von Kleists Roman „Michael Kohlhaas“ geht es um einen Pferdehändler, dem zwei Pferde gestohlen werden. Im Kampf um „Gerechtigkeit“ verliert er seine Frau, steckt schließlich ganze Städte in Brand und endet auf dem Schafott. Es war ihm wichtiger, die beiden Pferde zurückzubekommen, als weiterzuleben.
Schaut man sich das Leben von Heinrich von Kleist an, erfährt man, dass seine Eltern früh gestorben sind. Im Buch geht es vordergründig um’s „Recht“, aber könnte das darunterliegende Gefühl nicht die brennende Sehnsucht sein, Mutter und Vater (die zwei „Pferde“) wiederzubekommen? Könnte es sich da nicht auch um Rachsucht handeln? Um Rache am Leben, dass man so früh seine Eltern verloren hat?
Lücken sind schmerzhaft
Die Lücke, die wir im Leben spüren, schmerzt uns so sehr, dass wir alles dafür geben, sie nicht zu spüren. Frauen, die keine Kinder bekommen können, haben manchmal das Gefühl, an diesem Schicksal zu zerbrechen. Was ist es also, was uns da so sehr schmerzt?
Ich mag Eckhart Tolles Konzept vom „Pain Body“. Ich verstehe es so, dass unser Körper und unsere Seele die Schmerzen, die wir erfuhren, einspeichert und wir dann ständig damit kämpfen. Der „Pain Body“ liebe die Dramen, sagt Eckhart Tolle – zum Beispiel in dem wunderbaren Podcast „Sex and the Pain Body“ (Youtube).
Eckhart Tolles Konzept vom „Pain Body“
Der „Pain Body“ sei ein Energiefeld, sagt er. Manchmal übernehme uns dieses Energiefeld und zeige extremen Ärger, Hass, Rachsucht, Lust am Schmerz usw. Eckhart Tolle fragt im Video zum Beispiel: „Have you ever tried to argue with a pain body?“ Also: „Haben Sie jemals versucht, mit einem Pain Body zu diskutieren?“
Wenn dieses Energiefeld aktiv sei, dann seien wir keinen vernünftigen Argumenten mehr zugänglich. Dann sind wir wie von Sinnen.
Unser innerstes Wesen aber, unser „Consciousness“ (Bewusstsein), wie Eckhart Tolle sagt, ist frei davon und kann das alles beobachten. Wir merken: Wir selbst sind nicht (nur) unser Pain Body. In uns ist auch etwas, das frei von all dem ist. Eine Instanz, die verbunden ist mit dem Rest der Welt.
Unwillkommenes mit Mitgefühl annehmen
Wenn wir versuchen, gegen die „Energien“ des „Pain Body“ anzugehen, haben wir verloren. Doch wenn wir diese Energien akzeptieren, sie bewusst spüren und uns damit auseinandersetzen, dann können sie nachlassen. Wir können versuchen zu verstehen, wie wir zu diesem gnadenlosen „Ich will aber!“ gekommen sind. Wir können versuchen zu verstehen, warum wir bei dem Gedanken, kein Kind zu bekommen, glatt sterben könnten vor Verzweiflung, während die Freundin nebenan mit demselben Problem kaum daran leidet.
„Ich gehe mit dem, was ich mir wünsche, einen Zweierkampf ein wie mit der bösen Mutter, von der ich Liebe wollte und die mich nicht nährte“, sagt eine Frau.
Ursachensuche
Jeder hat seinen ureigensten Grund für sein „Ich-will-das-haben!“ und für sein „Um-jeden-Preis“. Die Angst vor dem Gefühl des Verlorenseins, des Fallens, der Einsamkeit, der Verzweiflung, der ungewissen Zukunft und auch der Scham ist zu groß, um loslassen zu können.
Die Sucht, etwas haben zu wollen, weist auf einen Mangel hin. Auf einen Mangel an Zugehörigkeit, einen Hunger, auf eine Sehnsucht, auf einen Schmerz. Wenn wir uns mit all dem auseinandersetzen, können wir vielleicht neue Auswege sehen, die uns aus der engen, strengen und gnadenlosen Zweierschaft mit unserem Ziel herausführen.
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