Wenn ein Kind in Gewalt aufgewachsen ist – kann es dann jemals von dieser Gewalt wegkommen? In der Psychoanalyse liegt der Patient auf der Couch und der Analytiker sitzt hinter ihm. Mit sehr schwer traumatisierten Patienten kann man dieses Setting häufig zunächst nicht einnehmen, weil der Patient stets die Vorstellung hat, der Analytiker könnte aufspringen und ihn angreifen. Doch wenn der Patient im Laufe der Analyse einen besseren Kontakt zu sich selbst bekommt und freier reflektieren kann, dann spürt er, dass die Gewalt auch in ihm selbst ist.
„Korrigierende Erfahrungen“ soll der Patient machen, heißt es so schön in der Psychotherapie. Das klingt so einfach und ideal. Doch die Wucht der ursprünglichen Erfahrungen ist groß.
Der Täter im Opfer
Auch der Patient hat Angst vor seinen inneren Kräften und fragt sich, ob er selbst in bestimmten Momenten der Wut und Verzweiflung aufspringen und dem Analytiker an die Gurgel gehen würde. Wenn schwer traumatisierte Patienten eine Psychoanalyse machen, verändert sich dieses Bild, das gleichzeitig ein Gefühl ist, nur sehr langsam. Oder anders gesagt: Eine neue Vorstellung kann nur sehr langsam hinzukommen.
Doch irgendwann kann sich eine neue Vorstellung bilden – manchmal zuerst für Sekunden, dann vielelicht auch für längere Momente: Es ist die Vorstellung, dass weder der Patient den Analytiker noch der Analytiker den Patienten angreifen wird. Der Patient kann einfach auf der Couch liegen und sich sicher fühlen, dass jeder einfach da ist, wo er ist, ohne etwas mit dem anderen zu machen.
„Das ist der Grund, warum ich Psychoanalyse mache“, denkt der Patient. Denkt der Psychoanalytiker.
Der lange Weg lohnt sich.
Psychoanalytiker und Patienten spüren täglich, wie langsam sich die Psyche bewegt, wie langsam sie sich formt. Aber wenn man des Moments gewahr wird, in dem die Veränderung – vielleicht erst nach Jahren – stattfindet, dann ist es das größte Glück.
Zusammenfassung: Menschen, die in der Kindheit viel Gewalt erlebten, leiden oft unter einer Vorstellung: Der andere greift mich an oder ich greife in meiner Verzweiflung, Angst und Wut den anderen an. Doch in einer Psychoanalyse kann über die Jahre eine neue Vorstellung erwachsen: Weder ich greife den anderen an, noch greift der andere mich an. Zwei Menschen können in einem Raum sein und jeder ist einfach nur da. Jeder lässt den anderen und auch sich selbst in Ruhe.
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 24.9.2017
Aktualisiert am 2.8.2020
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