
Für „psychische Gesundheit“ gibt es unzählige Definitionen. Besonders klar aber bringt es der Psychoanalytiker Wilfred Bion (1897-1979) auf den Punkt: Die Wahrheitsliebe und die Fähigkeit, Frustration zu ertragen, sind die wohl wichtigsten Zeichen psychischer Gesundheit (siehe James Grotstein: A Beam of Intense Darkness, Karnac 2007). Unsere Neugier hilft uns dabei, die Wahrheit herauszufinden. Wir wollen’s wissen – fast immer, fast überall, fast jeden Tag.
Wir lieben die Wahrheit
Kaum etwas bringt mehr Leid über einen Menschen als eine „Lebenslüge“. Eltern, die ihre Kinder vor der Wahrheit schützen wollen, richten unwillentlich meistens unsägliches Leid an. In der Psychoanalyse klagen viele Patienten nicht über das Leid an sich, das sie erfahren haben, sondern besonders auch darüber, dass man ihnen die Wahrheit vorenthalten hat: „Dass das passiert ist, ist ja schon schlimm. Aber viel schlimmer ist, dass man mir nicht die Wahrheit gesagt hat“, sagen sie. Die Wahrheitsliebe und die Fähigkeit, Schmerz zu ertragen, hängen eng zusammen. Wir können jemandem leichter die Wahrheit sagen, wenn wir wissen, dass er fähig ist, die Frustration und die Enttäuschung zu ertragen. „Empfindliche“ Menschen wollen wir lieber „verschonen“ mit der Wahrheit.
Am Lebensanfang steht die Verbundenheit mit der Mutter
Die Fähigkeit, Frustration zu ertragen, ist uns jedoch nicht einfach angeboren: Wir erlangen sie insbesondere in der frühkindlichen Zeit im engen Zusammensein mit der Mutter. Gerade in der Anfangszeit des Lebens machen die meisten Kinder die Erfahrung, dass die Mutter ihre Gefühle hält wie ein Container. Egal, was das Baby fühlt – ob Angst, Wut, Hunger oder Frustration – bei der (gesunden) Mutter ist es gut „aufgehoben“.
Die Mutter nimmt die Gefühle des Babys auf, interpretiert und „verdaut“ sie. Dann beruhigt sie das Baby und „lehrt“ es durch die enge Kommunikation, mit seinen Gefühlen umzugehen. Besonders schmerzhaft ist für das Kleinkind die Erfahrung der „Abwesenheit“.
Die „abwesende Brust“ ist bei Hunger unerträglich schmerzhaft. Die „abwesende Mutter“ kann ein Kleinkind depressiv machen. Den Umgang mit diesen frühen schmerzhaften Erfahrungen lernt das Baby/Kleinkind durch die Mutter und andere nahestehende Bezugspersonen.
Besonders schmerzhaft ist das Abwesende.
Bedürfnisse wollen befriedigt werden
Wie schnell reagiert die Mutter auf das Schreien des Kindes? Wieviel Abwesenheit traut sie dem Kind zu? Kann sie sich in das Kind einfühlen und es trösten? Die richtige Dosierung macht’s. Eine gesunde Mutter hilft dem Baby und Kleinkind dabei, einen „psychischen Raum“ zu entwickeln. Während zunächst die Mutter der „Container“ für das Befinden des Babys ist, wächst im Kind mit der Zeit ein eigener Behälter: Das Kind lernt, sich selbst zu regulieren. Wenn in diesem empfindlichen System etwas schief geht, kann es sein, dass der Gefühlscontainer im Kind zu klein ist.
Intime Beziehungen formen den psychischen Raum. Daher ist es für die Psyche ebenso schmerzhaft, den wichtigsten anderen Menschen zu verlieren, wie für den Körper, wenn er eine Gliedmaße verliert. Beziehungen sind lebenswichtig für unsere Seele. Erst langsam begreift „die Gesellschaft“ das. Diskussionen um die „Kitas“ und um das Zusammenführen geflüchteter Familienmitglieder zeigen das.
Containment in der falschen Richtung
Schlimm ist es auch, wenn der „Container“ im Kind hauptsächlich dazu da ist, die Schmerzen der Mutter aufzunehmen. Die Mutter, die in großer Not ist, legt ihre Gefühle möglicherweise „im Kind“ ab. Passiert das zu sehr und zu oft, kann das Kind sich selbst nicht mehr spüren und „containt“ alles, was von der Mutter kommt.
Im schlimmsten Fall ist das Container-Contained-System so gestört, dass das Kind psychotisch wird. Dann liebt es die Wahrheit nicht mehr, sondern kämpft mit Halluzinationen, Projektionen und Verfolgungswahn. Der Begriff der „schizophrenogenen Mutter“ galt lange Zeit als veraltet (wohl um die Mütter zu schonen …). Heute ist man anscheinend wieder offener dafür.
Viele Psychoanalysen zeigen, wie eng Psychosen und das „Container-Contained-System“ zusammenhängen (siehe: Take these broken wings). Kinderseelen sind so empfindlich. Wir wissen, wie rasch wir ein Kind „verrückt“ machen können, wenn wir ihm etwas Falsches erzählen und es damit aufziehen.
Die Psychoanalyse nimmt sich der großen Schmerzen des Lebens an.
Schmerztoleranz ist nicht nur eine Frage des Willens
Die Fähigkeit, Frustration und Schmerz zu erleiden, ist also nicht einfach so da. Sie ist abhängig von der Mutter und den Menschen, mit denen wir groß wurden. Mit Willen hat das oft nichts zu tun. Man kann natürlich „wollen“, dass man fähiger wird, Schmerz zu ertragen. Viele Menschen wünschen sich das – und machen deswegen eine Psychoanalyse. Hier lässt sich genau beobachten, wie lange es dauert, bis der psychische Raum größer und Schmerz erträglich wird. Aber diese Entwicklung ist möglich – ein Leben lang, sobald der Betroffene Containment erfährt, also sobald er jemanden hat, der seine Gefühle aufnimmt, der mitleidet und „mit-verdaut“.
Durchleiden
Dabei merkt man mit der Zeit: Es ist ein Unterschied, ob man Schmerz einfach nur „aushält“, oder ob man ihn erduldet und erleidet. Akuter, überheftiger Schmerz muss vielleicht erst einmal abgewehrt werden. Doch tiefer, vielleicht auch dauerhafter psychischer Schmerz kehrt im Leben immer wieder zurück. Wenn wir einmal einen Menschen hatten, der diesen Schmerz mit uns ertragen hat, dann können wir den Schmerz in uns selbst halten und erleiden. Wir müssen ihn nicht an andere weitergeben. Wenn man leiden kann, stellt man vielleicht fest, dass der Schmerz wieder nachlässt. Ohne Ablenkung. Einfach so. Er vergeht.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 22.1.2017
Aktualisiert am 15.3.2020
Fischmondfahrt meint
Der ist ja wirklich weise. Finde ich!
Dunja Voos meint
Die Überschrift des Blogbeitrags meinst Du, liebe Fischmondfahrt? Habe ich mir selbst ausgedacht :-)
Fischmondfahrt meint
Wo kommt denn der Titel her?