
Kleinkindforscher nehmen an, dass sich Säuglinge oft als eine Einheit mit der Mutter fühlen. Das Baby kann sich selbst nicht sättigen und sich meistens auch nicht selbst beruhigen – dazu braucht es einen Erwachsenen. Mutter und Vater können das, was das Baby noch nicht kann. Für das kleine Kind sind die Eltern oft „Alles-Könner“. Obwohl es noch recht hilflos ist, fühlt sich das Kleinkind grandios, wenn es die ersten Schritte tut oder etwas mit seinen Händchen bewirken kann. Die Mutter unterstützt dieses Gefühl, indem sie das Kind anlächelt, ermutigt und bewundert. Das kleine Kind entwickelt das Gefühl, selbst großartig zu sein – es entwickelt ein „Größen-Selbst.“
Doch nicht Eins mit der Mutter
Mit der Zeit bemerkt das Kind, dass die Mutter doch nicht die Beste ist. Es bemerkt, dass es von der Mutter auch immer wieder enttäuscht oder frustriert wird. Dem Kleinkind wird irgendwann klar, dass die Mutter nicht sein „verlängerter Arm“, sondern ein eigenständiger Mensch ist.
Dieses Verlustgefühl ist für das Kind sehr schmerzlich. Doch in den Augen der Mutter findet es weiterhin Bewunderung. Mit diesem „Größen-Selbst“ kommt das Kind in der Welt klar, obwohl es in Wirklichkeit noch so abhängig ist.
Das Größen-Selbst wächst sich aus
Im Laufe der Zeit kann das Kind tatsächlich immer mehr. Es gelingt ihm aber auch zunehmend, sich selbst besser und realistischer einzuschätzen. Wenn die Eltern das Kind gut begleiten, es nicht allzu oft beschämen, sondern ermuntern, dann entwickelt das Kind ein „gesundes Selbst“. Das Kind weiß: Das bin ich und die Mutter ist auch ein eigenständiger Mensch.
Erlebt das Kind zu viele Verletzungen, flüchtet es sich immer wieder in das Gefühl des „Größen-Selbst“. Bei Erwachsenen, die als Kind oft beschämt wurden, stellt man häufig fest, dass sie zwischen einem großartigen Gefühl und einem Minderwertigkeitsgefühl stark schwanken. Grandiositäts- und Minderwertigkeitsgefühle, Hochgefühl und Absturz sind zwei Seiten einer Medaille, wenn die realistische Einschätzung fehlt.
„Guck mal, was ich alles kann“, rufen kleine Kinder und fühlen sich großartig. Sie lieben es, sich zur Schau zu stellen und bewundert zu werden. Sie fühlen sich großartig und haben ein grandioses Selbstbild. Der Selbstpsychologe Heinz Kohut spricht bei diesem „kindlichen Exhibitionismus“ vom „Größen-Selbst“. Hieraus entwickeln sich die „Strebungen nach Erfolg, Macht und Freude an der eigenen Aktivität“ (Mertens/Waldvogel 2008).
Das Kind hat aber noch etwas, das es großartig findet: die eigenen Eltern. Es idealisiert die Eltern und fühlt sich als Teil von ihnen. Es hat ideale Vorstellungen von den Eltern, sogenannte „idealisierte Elternimagines“ (Einzahl: die idealisierte Elternimago). Der Junge fühlt sich stark, weil er an der Stärke des Papas teilhaben kann. Hieraus entstehen nach Kohut „Werte, Idealvorstellungen und idealisierte Ziele“ (Mertens/Waldvogel 2008).
Quelle:
Wolfgang Mertens/Bruno Waldvogel (Hrsg.)
Handbuch psychoanalytischer Begriffe
Kohlhammer 2008: S. 322
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Dieser Beitrag erschien erstmals am 13.1.2014
Aktualisiert am 16.1.2020
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