
Vielleicht erinnern Sie sich, wie abhängig Sie sich als Kind von den Eltern fühlten. Das Bewusstsein dafür entsteht oft erst, wenn man älter wird. Viele Kinder erleben Gewalt und werden durch die Erfahrungen, die sie in ihrer Familie machen, psychisch oder körperlich krank. Ist man erwachsen, kann diese Sorge immer wieder auftauchen: „Macht mich mein Partner krank? Er nörgelt an allem, was ich tue oder sage, herum. Er engt mich so ein, dass ich kaum noch atmen kann.“ In der Folge verlässt man den Partner – doch das Alleinsein schmerzt und die lange Strecke ist länger als gedacht, sodass auf einmal der Gedanke kommt: „Kann mich das lange Alleinsein krankmachen?“
Überall liest man doch, dass Einsamkeit zu Herzinfarkt führen kann. Und dann wirft man sich vielleicht in irgendeine Beziehung, um die Angst vor der Einsamkeit mit ihren möglichen Krankheitsfolgen zu bändigen.
Ähnlich ist es mit der Arbeit. „Macht mich meine Arbeitsstelle krank?“, fragt man sich. Man kündigt und fängt etwas Neues an, mit dem man sich freier fühlt. Doch wider Erwarten werden die große Freiheit und Verantwortung plötzlich als erdrückend empfunden. „Macht es mich krank, als Selbstständige zu arbeiten?“, fragen wir uns.
„Es gibt Patienten, die können den Analytiker krank machen“, lese und höre ich. Oh Gott!
Gerade in der Psychoanalyse können die Fragen nach der Schädlichkeit immer wieder auftauchen: „Macht mich der Patient krank?“, fragt sich der Psychoanalytiker. „Macht mich der Analytiker krank?“, fragt sich der Patient. „Bin ich schon zu lange hier und werde immer kränker, ohne es zu merken?“ Wer will das beantworten? Man kann nur immer und immer wieder still werden, warten und lauschen.
Dass Unruhe und Ungutes „ansteckend“ sein kann, erfahren wir immer wieder. Beispielsweise brauchen Borderline-Patienten um sich herum höher strukturierte Menschen, um dort Halt zu finden. Sind sie mit Psychotikern, Alkoholikern etc. zusammen, bekommen sie furchtbare Angst, sich anstecken zu können und genauso zu werden. Doch das trifft nicht nur auf Patienten zu – im Grunde genommen kennen wohl die meisten Menschen solche Ängste.
Die Arbeit in einer psychiatrischen Klinik kann enorm herausfordernd sein: „All die niedrig strukturierten Menschen um mich herum machen mich krank“, sagt ein Psychiater und kündigt.
Wie ist es nun mit dem Krankgemachtwerden durch den Partner, den Therapeuten, den Patienten, den Job, das Alleinsein?
Alles Mögliche kann uns „krank“ oder auch „gesund“ machen. Wir können die Augen nicht davor verschließen – bei so manchem Krebspatienten kommt der Gedanke auf, dass die Partnerschaft den Betroffenen krank gemacht hat. Alles Mögliche im Leben kann tödlich sein, doch wichtig ist es, sich die Sorge anzugucken, dass jemand oder etwas einen krank machen könnte. Was bedeutet diese Sorge?
Es gibt Psychotherapeuten, Psychoanalytiker, Ärzte und Patienten, die rasch sagen: „Ich muss mich schützen, ich muss mich abgrenzen.“ Bei diesem Satz herrscht mitunter die Vorstellung vor, dass der andere in einen eindringt, einem schadet und einen angreift.
„Borderliner manipulieren nur, da musst Du von Anfang an aufpassen“, hörte ich einen Therapeuten sagen. Doch der Borderliner selbst weiß davon nichts – er ist schlichtweg verzweifelt.
Ähnlich ist es mit Kindern: „Pass bloß auf, dass Dir Dein Kind nicht auf der Nase herumtanzt“, sagen häufig Menschen, die verunsichert im Gespür für Kinder sind und die relativ wenig Wissen über die Entwicklungspsychologie haben. So kommt es, dass Bücher wie „Der kleine Tyrann“ die Runde machen konnten und viele Mütter verunsicherten.
Auch unsere körperliche Verfassung spielt eine Rolle. Manchmal wird uns schlecht, wenn wir an jemanden denken. Manchmal haben wir die Magen-Darm-Grippe und uns wird noch schlechter davon. Sind wir wieder gesund, können wir an den anderen denken, ohne uns übergeben zu müssen.
Doch nicht nur andere Menschen können einen „krank machen“, sondern auch die Isolation kann bedrohlich werden. Doch ist es kein Automatismus, wenn es uns gelingt, die Dinge zu beobachten und über sie nachzudenken.
„Er zog sich in die Einsamkeit des Alters zurück“, hörte ich in einer Dokumentation über alte Menschen in fernen Ländern. Es gibt Einsiedler, die 100 Jahre alt werden, also kann es nicht die Einsamkeit oder Isolation per se sein, die krank macht.
Haltung bewahren? Abwehr kann verwirren.
„Mein Patient lässt so viele Stunden ausfallen! Das kann er mit mir nicht machen. Ich habe ihn entlassen, dann kann er woanders hingehen, wo er nicht hingeht. Das hat ja auch was mit Selbstachtung zu tun“, sagt ein Psychiater. Dieser Arzt konnte nicht sehen, dass das Wegbleiben des Patienten ein Symbol war, dass der Patient etwas damit sagen wollte, dass der Patient hoffte, genau bei diesem Therapeuten ein Problem damit lösen zu können, indem er sein Fernbleiben inszenierte. Der Therapeut verlor an Selbstachtung, aber nur aus dem Grund, weil er die Sache eben so einschätzte, wie er sie eben einschätzte. Der Patient hatte gehofft, den Therapeuten „benutzen“ zu können, damit ihm Dinge klar werden. Doch der Therapeut hatte in seiner Ausbildung viel zu wenig darüber gelernt, sodass er die Beziehung zum Patienten abbrach.
Ob etwas „Übertragung“ ist oder „echt“ (falls es das überhaupt gibt), ob etwas noch aushaltbar ist oder nicht, das sagt uns oft erst die Zeit. Wenn wir zu früh reagieren (also z.B. schon nach fünf Jahren), dann nehmen wir uns oft die Chance, zu wachsen. Natürlich muss man hier und da auch einfach „abhauen“ – es gibt Dinge, die gehen einfach nicht. Doch Sätze wie „Einsamkeit ist so gefährlich wie Rauchen“ oder „Frühes Trauma führt zu einer verkürzten Lebenserwartung durch Kappung der Telomere der Chromosomen“ helfen rein gar nichts.
Ich war überrascht, bei der buddhistischen Nonne Pema Chödrön zu lesen, dass wir unser Leid und das der anderen einatmen und Linderung ausatmen sollten. Ich dachte, das würde mich krankmachen.
In ihrem Buch „Wenn alles zerbricht“ erzählt Pema Chödrön von ihrer Erfahrung, dass es nicht krank macht, das Leid der anderen aufzunehmen. So klar hatte ich es noch nicht formuliert gehört, obwohl ich schon in der Psychoanalyse erfahren habe, dass mich das Leid des anderen meistens nicht beschädigt.
Immer wieder ist zu lesen, dass Psychotherapeuten traumatisiert davon sind, wenn Patienten ihnen ihre eigenen Traumata erzählen. Ich glaube, das hängt auch mit einer unzureichenden Ausbildung des Therapeuten zusammen in dem Sinne, dass die Verletzungen des Therapeuten nicht ausreichend in einer Lehranalyse gehalten und verarbeitet wurden.
„Geteiltes Leid ist doppeltes Leid“ – Leid kann sich dann potenzieren, wenn das eigene Leid noch nicht ausreichend gehalten, geteilt und verdaut wurde.
Wir machen meistens dann „zu“, wenn wir Angst haben vor dem Leid des anderen, weil es unserem zu ähnlich ist. Je mehr wir selbst von unseren Schmerzen zulassen konnten, je mehr wir selbst verarbeitet haben, umso besser können wir das Leid des anderen aufnehmen.
Manchmal fühlen wir uns geschwächt durch das Leid des anderen, manchmal aber auch sogar gestärkt, weil es uns in eine gute emotionale Verbindung mit dem anderen gebracht hat. „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ kann eben auch zutreffen.
Also: Ob uns etwas oder jemand krank macht oder nicht lässt sich nie einfach so sagen. Es hängt immer damit zusammen, wie wir über die Dinge denken, was wir erführen, wie wir fühlen, wovon wir überzeugt sind, welche Alternativen wir kennen, wie kreativ und neugierig wir sind und von vielem mehr. Manchmal bleibt uns nichts anderes übrig, als das Nicht-Akzeptierbare zu akzeptieren. Für eine Weile oder auch für eine sehr, sehr lange Zeit. Aber es macht uns nicht automatisch krank.
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Anonym meint
Anonym meint:
Ich würde gerne zu dem letzten Abschnitt des Beitrags ergänzen:
„Ob uns etwas oder jemand krankmacht oder nicht,……hängt auch damit zusammen“,…….
…….ob und wie sehr in Bezug auf eine bestimmte konkrete interaktionelle Situation die Gesprächspartner in der Lage sind, ihr eigenes Verhalten kritisch zu reflektieren und nachträglich mit dem anderen DARÜBER, also ÜBER die Gefühle des Sich-nicht-verstanden- oder verletzt-Fühlens zu sprechen, Damit Frustrationen, Irritationen und evtl. Vertrauensverlust nicht in den Betreffenden hängenbleiben und sich Gott-weiß-wohin-schleichen……….und evtl. an anderen Stellen unerwartet wieder zum Vorschein kommen.