
Vor einiger Zeit sah ich einen hochbetagten Herrn im Fernsehen, der sagte in aller Seelenruhe: „Nach all dem, was ich im Krieg erlebt habe, kann ich das Leben nicht mehr schön finden.“ Er sagte es ganz selbstverständlich. Da war keine Gefahr, dass da irgendein Arzt kommt und ihm Serotonin-Wiederaufnahmehemmer anbietet. Da war kein Aufmunterungsversuch von Seiten der Moderatoren. Er sagte es ruhig und es war in Ordnung. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Viele Menschen, die schwere Traumata erlitten haben, haben das Gefühl, sie machten etwas falsch, wenn sie im Leben kaum wirkliche Erleichterung und ungezwungene Freude finden und wenn sie immer wieder unter Depressionen leiden. Die Betroffenen werden rasch als „gestört“ oder „krank“ angesehen. Doch ist es nicht zutiefst gesund, was der Mann da im Fernsehen sagte – und vor allem: wie er es sagte? Was er fühlte, war eine normale Reaktion auf das, was er erlebt hatte. Und doch sah er nicht so aus, als wollte er direkt den Löffel abgeben. Er wirkte auf mich, als sei er trotzdem fähig, Dinge zu genießen und in Frieden zu sein.
Das eine gehört dazu, das andere aber auch
Als mein Lieblings-Professor an Krebs erkrankte und ich ihn im Endstadium besuchte, kam er mir dünn und blass aus seinem Haus im Grünen entgegen. Ich erschrak, doch er fühlte sich gut.
Er sagte: „Ich bin ein gesunder Krebskranker.“
Sofort veränderte sich das Bild, das ich von ihm hatte: Er sah krank aus, aber er kam mir nicht mehr krank vor. Es passte einfach. Die Gegensätze bekämpften sich nicht, sondern waren da wie zwei Puzzleteile, die ein Ganzes ergaben. Was mich rührte, war seine Gelassenheit und das Gefühl: Es stimmt so schon. Ich muss mich nicht länger dagegen auflehnen.
Wenn man das Leben nicht schön finden muss, entdeckt man die schönen Seiten
Ich würde mir wünschen, dass sich in Medizin und Psychotherapie mehr Gelassenheit ausbreiten könnte – stattdessen werden Task Forces und Screening-Programme gegen Depressionen eingerichtet. Als müsste man psychisches Leid ausrotten wie Ungeziefer.
Zum Glück gibt es Ärzte und Psychologen, die nicht voreilig zur Tat schreiten, sondern die Leidenden in Ruhe anblicken und begleiten können. Beide lernen voneinander, beide leiten einander. Von Mensch zu Mensch. Von Lebenslust zu Lebensunlust und wieder zurück.
Die Betroffenen wollen nicht unbedingt drängend, dass es ihnen „besser“ geht. Sie suchen nach jemandem, der ihnen zutiefst zuhört und der sie in ihr Inneres begleitet. Sie suchen nach Berührung.
Ein weiterer Mann beschreibt anschaulich, wie das Leid aus der Kindheit ein Leben lang bleiben kann. Es hat etwas Beunruhigendes, zu hören, wie Kindheitstraumata das Leben prägen. Es hat aber auch etwas sehr Erleichterndes, zu hören, dass auch andere Traumatisierte den Schmerz ihr Leben lang kennen und dass dies durchaus „normal“ ist. Das befreit von dem Drang, das Leben – oft um der anderen Willen – „schön“ finden zu müssen.
In der Sendung „Sehen statt Hören“ (6.7.2019, Bayerischer Rundfunk, BR.de/mediathek ) besuchen Gehörlose ihr ehemaliges Internat „Hohenwart“. Der ehemalige Internatsschüler Rupert Kluge erklärt, wie es ihm geht:
„Die Klosterschwestern begannen, mich zu schlagen, als ich acht war. … Die Unterdrückung hörte nie auf. Es waren nicht nur die Schläge, sondern viele andere Dinge, die mich verletzt haben. Ich konnte das nie vergessen. Die Angst steckt immer noch in mir. Es hat mich kaputt gemacht. Daran haben auch die letzten 70 Jahre nichts geändert. Die Ereignisse in Hohenwart – sie bleiben immer in meinem Kopf. Da ist nichts zu machen.“
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 27.2.2013
Aktualisiert am 15.7.2019
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