
„Da haben wir wieder so eine abhängige Persönlichkeit: Diese Patientin meint, nicht ohne uns auskommen zu können“, sagt die Stationsschwester einer psychiatrischen Klinik genervt. Die Klinik gibt der Patientin Struktur, doch sobald die Patientin entlassen ist, fällt sie in sich zusammen. Dieser Mechanismus führt oft zum „Drehtür-Effekt“ in der Psychiatrie: Die Patienten kommen immer wieder, weil sie zu wenig innere „Struktur“ haben.
In einer Psychoanalye hingegen können sich die Patienten an eine Person, nämlich den Psychoanalytiker, binden. Sie machen sich eine ganze Weile von ihm „abhängig“. In der Psychoanalyse wird sozusagen etwas vom Psychoanalytiker „in den Patienten hineingelegt“ – der Patient baut neue Repräsentanzen auf. Er sieht sich selbst mit anderen Augen und hat das Gefühl, der Analytiker ist auf gewisse Art „in ihm“. Es fühlt sich vielleicht so an, als würde etwas in einen „eingepflanzt“ oder aber als würde etwas, das in einem ist, sozusagen „gegossen“ werden, sodass es wachsen, sich entwickeln und aufblühen kann.
Was wird da „eingepflanzt“?
Wie diese Vorgänge genau geschehen, das lässt sich längst noch nicht so richtig erklären. Wir alle aber kennen die „inneren Stimmen“ in uns, vielleicht das „maligne Introjekt“, die „fehlende“ oder die „gute Mutter“ in uns. Wir kennen Menschen, die strahlen Geborgenheit aus. Es ist, als hätten sie eine schützende Hülle um sich herum. Das sind oft Menschen, die gute Eltern hatten und in guten Beziehungen leben. Sie wirken einerseits „wenig abhängig“, nähren sich aber andererseits durch gute Beziehungen, vielleicht durch eine gelungene Partnerschaft, durch die Zusammenarbeit mit Kollegen oder ein gutes Familienleben.
Die „abhängige Persönlichkeit“ zeichnet sich oft dadurch aus, dass sie sowohl „gefühlt“ als auch im realen Leben eben niemanden hat: weder eine „gute Mutter“, einen „beschützenden Vater“, einen liebevollen Partner, eine sichere Arbeitsstelle oder einen verlässlichen Familienkreis. Die Betroffenen fühlen sich so, als hätten sie ein verkümmertes Pflänzlein in sich, das nur durch einen anderen zum Leben erweckt werden kann.
„Die Lust am körperlichen Kontakt mit der Mutter bzw. die Anklammerung an sie ist sowohl die Grundlage der Bindung als auch Voraussetzung der Trennung.“
Didier Anzieu: Das Haut-Ich. Suhrkamp, 6. Auflage 2016, S. 44
Wir leben in einer Gesellschaft, in der „Unabhängigkeit“ großgeschrieben wird. Wir sollen die Kräfte „aus uns selbst“ herausholen. Doch langsam merken wir, dass das nicht so ohne Weiteres geht. Manches können wir uns nicht selbst sagen, aber wenn wir es von einem anderen hören, ist es, als würde sich ein schützender Mantel um uns legen. Wenn wir lange nicht berührt werden – mit Händen oder mit Worten – dann fühlen wir uns mitunter brüchig.
Die Frage, die sich viele stellen ist: Wieviel Kraft kann ich „aus mir selbst“ herausholen? Wieviel Schutzhülle gebe ich mir selbst, wieviel kann ich selbst in mir „containen“, wie sehr kann ich mir selbst eine gute Mutter sein? Wie sehr kann ich schädigende Kräfte in mir in Schach halten? Wie lange kann ich die Energie von geliebten Menschen mitnehmen und wann läuft mir sozusagen die Kraft aus?
Gute Abhängigkeit macht unabhängig
Den sogenannten „abhängigen Persönlichkeiten“ hilft man aus meiner Sicht am besten, wenn sie eine Weile in der Psychoanalyse tatsächlich „abhängig“ sein dürfen. In dieser Zeit ist es, als installierten sie etwas in ihrer Psyche, das dann wachsen kann. Irgendwann spüren sie, dass sie sich selbst weiterentwickeln können. Es scheint aber so etwas wie ein Minimum an Grundlage zu geben, das erst einmal geschaffen werden muss.
Es ist wie bei Kindern: Werden sie zu früh aus dem Nest geworfen, fehlt ihnen innerlich etwas. Sie können sich nur mit Mühe weiter aus sich selbst heraus entwickeln. Andererseits können herausfordernde Lebenssituationen „den Löwen in uns“ wecken und uns über uns selbst hinauswachsen lassen, wie wir es nie für möglich hielten.
Wir brauchen andere Menschen. Wir brauchen andere, um aufzutanken. Wichtig ist es, dass wir lernen, auf unsere Bedürfnisse zu achten und mit anderen Menschen vorsichtig umzugehen, damit befriedigende Beziehungen möglich werden. Und dann ist es ein Wechselspiel: Durch die befriedigende Beziehung habe ich das Gefühl, dass ich mich mehr aus mir selbst heraus entwickeln kann. Die Zusammenhänge sind kompliziert.
Wenn wir einen anderen brauchen, aber niemand da ist, dann können wir zumindest nach „geistiger Nahrung“ Ausschau halten. Der Psychoanalytiker Didier Anzieu schreibt in seinem Buch „Das Haut-Ich“, dass Worte wie eine Haut wirken können, sodass wir uns zum Beispiel neu umhüllt fühlen können, wenn wir etwas lesen, das uns genau in dem Moment berührt. Gute Bücher, inspirierenden Filme, Musik, Natur, aber auch Stundenpläne und selbst auferlegte „Ordnungstherapie“ können uns helfen, Energie zu tanken in Zeiten, in denen es uns an „haltgebenden Beziehungen“ fehlt. Und natürlich machen diese Dinge uns Freude, wenn wir uns aus Beziehungen zurückziehen wollen. Wir brauchen immer auch einen eigenen Raum. Ein Leben lang und in allen Lebensphasen suchen wir wohl nach dem richtigen Gleichgewicht aus Beziehung, Rückzug, Alleinsein und Wiederannäherung.
Tamina meint
Liebe Dunja,
bei manchen deiner Beiträge erkenne ich mich und meine Erfahrungen wieder und manchmal, so wie jetzt, würde ich so gern alles erzählen, was ich erlebt habe und was ich mir heute dazu so denke.
Hier vielleicht mal ein wenig dazu. Ich war unter anderem mein Leben lang viel auf mich allein gestellt, war tatsächlich viele Jahre innerlich wie faktisch allein, bin es heute noch mehr als manch anderer vielleicht.
Unglaublich gute Seelen und Freunde ebenso wie 5 Jahre gute und intensive Psychotherapien haben mich durchaus schon wachsen lassen und heilen.
In meiner Kindheit und Jugend hörte ich von Familie von Lehrern und netten Nachbarn oft sowas wie, man muss ja auch allein sein können. Wenn man nicht allein sein kann ist es auch nicht gut und wahre Liebe ist die Selbstliebe dazu braucht man niemanden. Das habe ich Jahre ernst genommen und so geglaubt, so wollte ich mein Alleinsein und die Einsamkeit zum Wachstum nutzen, glaubte vielleicht ist es eine Chance.
Heute einige Jahre später, habe ich zum Thema, Einsamkeit, Alleinsein (können), Unabhängigkeit, Freiheit, Bedürfnissen und Menschsein mein ganz eigenes Bild.
Ich denke, gerade in der heutigen Zeit, dem Individualismus und den Unabhängigkeitsbestrebungen unserer Gesellschaft, sollten wir doch einen Grundlegenden Gedanken nicht vergessen.
Der Mensch ist ein Soziales Wesen, quasi ein Herdentier. Das ist seine Grundnatur und der Mensch ist somit nicht zum Alleinsein gemacht. Wir brauchen einander und das Miteinander, um zu überleben, um zu lernen, uns körperlich, seelisch und emotional zu entwickeln und auch zu erhalten. Das ist etwas ganz natürliches. Heute wird das vielleicht allzu schnell vergessen und fällt dem Unabhängigkeitsbestreben zum Opfer.
Auch ich habe es in den letzten 10 Jahren in meiner Therapie und unter Freunden gebraucht, Zuwendung, Wert, Fürsorge, Liebe, (emotionale und physische) Nähe und vieles mehr zu bekommen. Allein, um zu lernen oder mich zu erinnern, wie sich Verlässlichkeit, Fürsorge, Liebe, Halt, Struktur und vieles mehr anfühlt und wie es geht. Einiges hätte nicht, ohne das Andere es mir vormachen und geben (ist hier quasi das selbe) aus mir allein kommen können. Ich hätte nicht einmal gewusst, wonach ich in mir hätte suchen sollen. Erst nachdem ich das Gefühl erlebte durch andere, die es mir gaben, wusste ich, wie es sich anfühlt und konnte dann schauen, wo und wie ich es mir selbst geben oder es in mir entfachen kann.
Unfassbar vieles zu Selbst Fürsoge, Struktur, Ruhe, Liebe, Umgang mit Gefühlen, Kommunikation, Alltagsbewältigung habe ich mir von den andern Menschen abgeschaut. Innerlich wie äußerlich von Ihnen bekommen, geliehen. Vieles kann ich ESHALB heute aus mir heraus für mich schaffen.
Aber ebenso vieles, ist mir heute möglich an stabilerem Leben Struktur und Sicherheit, weil ich mein soziales Netz habe. Meine Freunde, Nachbarn, Ärzte, Therapeuten oder die Supermarktverkäuferin und meine Alltagsstruktur. Ich habe es mir geschaffen und geschenkt bekommen von andern, beides zugleich und ich weiß. Menschen und Alltag ist da, wenn ich ihn brauche. Dadurch brauche ich sie oft nicht, kann alleine tun und entscheiden, alleine sein, bin selbstsicherer. Zum Teil weil ich es lernen konnte und zum Teil, weil ich weiß, es sind Menschen da, wenn es Not tut.
So kann ich sagen, autonomes Leben und handeln und stabile Sozialgefüge und Beziehungen bedingen einander, völlige Unabhängigkeit und allein sein. in dem ein Mensch niemanden braucht, widerspricht dem Menschsein. Auch jeder Mensch in gewissem Maße den andern braucht, muss man sich als Mensch eingestehen und wagen.
Vieles davon findet sich in deinem Artikel wieder, danke.
Herzliche Grüße, Tamina