
So mancher kennt noch die ewig gleichen Kriegsgeschichten, die Oma und Opa erzählten. Wie langweilig uns das wurde! Wenn ein Patient jahrelang zur Psychoanalyse geht, erzählt er immer wieder dasselbe. Wird das nicht langweilig? „Das haben wir alles schon mal gehabt“, sagt der Psychoanalytiker vielleicht irgendwann ungeduldig. Und auch der Patient ist manchmal genervt von seinen eigenen, immer wiederkehrenden Erzählungen. Und dennoch bleibt es interessant.
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In der Psychoanalyse dreht man sich meistens nicht im Kreis, auch wenn es sich oft so anfühlt. Meistens ist es eine Spirale, bei der man fast an denselben Punkt kommt, aber doch schon eine Windung weiter nach oben gegangen ist. Wenn Patienten dasselbe erzählen, dann gibt es viel zu entdecken: Wie sagt er es diesmal? Welches Detail betont er heute? Und vor allem: In welchem Zusammenhang sagt er es diesmal? Wie sah die Beziehung zwischen dem Analytiker und dem Patienten aus zu dem Zeitpunkt, als dem Patienten „schon wieder“ diese alte Geschichte einfiel? In welcher Gefühlslage befinden sich Analytiker und Patient, wenn die alte Geschichte erneut auftaucht?
Wie Traumerzählungen
Wenn Patienten Träume erzählen, erzählen sie denselben Traum immer wieder etwas anders. Wenn man Patienten bittet, den Traum nochmals zu erzählen, kommen manchmal erstaunliche Details zum Vorschein, die vorher nicht auffielen. Wenn man sein Leben lang einen bestimmten Waldweg geht, kennt man ihn wie seine Westentasche. Und doch wird einem bei jedem Spaziergang etwas Neues auffallen. Die sich wiederholenden Geschichten können langweilen, aber auch die Langeweile lässt sich neugierig erforschen. Die Geschichte, die zum tausendsten Mal erzählt wird, ist nicht dieselbe Geschichte wie die vom 999. Mal – die Herausforderung besteht darin, die Mini-Unterschiede ausfindig zu machen und die neuen oder altbekannten Zusammenhänge zu sehen, in denen die Geschichte von Neuem erzählt wird.
Entstauben und Feinheiten hervorbringen
Anders als Opas Kriegsgeschichten bleiben die Wiederholungen in der Psychoanalyse so interessant, weil hier der Raum ist, das alte Bild wie unter einem Mikroskop zu erforschen oder es wie ein Restaurator zu betrachten, der an dem alten Gemälde oder Gemäuer, das er freilegt, immer wieder neue Nuancen entdeckt. Und manchmal kommt eine kleine Verbindung zum Vorschein, die alles verändert, die plötzlich etwas verstehen lässt. Etwas Neues kann an dem Alten bewusst werden und dann kann die alte Geschichte ganz neu erzählt werden. Wenn sich Geschichten wiederholen, kann man sich gelangweilt abwenden oder gerade dann aufhorchen. Es lohnt sich.
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