
In der Psychoanalyse gibt es – vereinfacht gesagt – zwei Ebenen: die reale und die Phantasie-Ebene. Die Hauptarbeit findet auf der Phantasie-Ebene statt. Sobald es auf die konkrete Ebene geht, ist besondere Zurückhaltung angesagt. Der Patient liegt auf der Couch und sagt – wenn möglich -, was ihm einfällt. Es entstehen Übertragungen und Gegenübertragungen. Der Analytiker sitzt hinter der Couch und nimmt beim Zuhören die träumerische Haltung ein, die zum Beispiel eine Mutter oder ein Vater einnimmt, wenn sie/er den Säugling auf dem Arm hält. Doch dieser Prozess kann leicht gestört werden.
Nachdenken
Die Mutter hat mehr oder weniger bewusste, schwebende Gedanken: „Was könnte mein Kind gerade fühlen? Wie es meiner Schwester ähnelt! Was wird wohl aus ihm werden? Hat es Hunger, will es auscheiden, ist es müde? Ich selbst bin gerade so müde.“ Dieses träumerische Gefühl kennen wir auch, wenn wir ins Gespräch vertieft sind, auf freien Autobahnstraßen fahren, etwas gemeinsam mit anderen erleben, ein Buch lesen, einen Film schauen, Musik hören, wenn wir über Sorgen, Ängste, die Vergangenheit, unsere Freuden und Zukunftsperspektiven sinnieren. Das alles finden wir interessant.
Zurück auf den Boden der Tatsachen
Im psychoanalytischen Gespräch „hebt man ab“, man ist rasch in der Gefühls-, Gedanken- und Gesprächswelt, in der ein Flow erlebt werden kann. In der Psychiatrie hingegen sieht es oft anders aus – da herrscht das Konkrete vor. Der Patient sagt: „Ich habe wieder so viele Alpträume …“, und der Psychiater fragt vielleicht rasch: „Sollen wir die Medikamentendosis erhöhen?“ Die Phantasie-Ebene wird sofort verlassen oder gar nicht erst betreten. Der Psychiater spricht das bewusste Denken des Patienten an. Das „Schwebende“ wird unterbrochen vom Konkreten. Manchmal zeigt sich der Patient dann genervt – es ist, als sei er aus dem Träumen oder aus dem Schlaf gerissen worden.
Verweilen
Die innere Haltung, die der Analytiker einnimmt, ist von großer Bedeutung. Kann er über den Patienten nachdenken? Kann er sich fragen: „Was bedeutet das, was mein Patient da gerade erzählt? Warum ist er so und so gekleidet? Welche Körperhaltung nimmt er ein? Welche Bilder entstehen in mir in Bezug auf den Patienten?“ So kann der Analytiker „funktionieren“ und dem Patienten dazu verhelfen, in der nachdenklichen, verstehenden und komplexen Welt zu bleiben. Dazu braucht der Analytiker nicht viel zu sagen – der Patient wird diese träumerische Haltung spüren.
Wenn das Konkrete überwiegt
Gestört ist dieser Prozess dann, wenn der Analytiker merkt, dass er mehr und mehr ins Konkrete kommt. Manchmal versuchen Patienten regelrecht, den Analytiker ins Konkrete zu locken. Wenn der Analytiker mit dem Patienten beginnt, um verschiedene Meinungen zu kämpfen, wenn er beginnt, immer häufiger konkret auf Fragen des Patienten zu antworten, dann verlässt der Analytiker seine analytische Haltung und kommt mit dem Patienten sozusagen auf den Boden der Tatsachen. Sowohl der Patient als auch der Analytiker merken, wenn die Tendenz, „konkret zu werden“, zunimmt. Es entsteht unter Umständen das Gefühl, dass die Arbeit gestört ist.
Der Schmerz des Analytikers
Diese Tendenz, konkret zu werden, kann unter anderem da auftauchen, wo ein persönlich wunder Punkt des Analytikers erreicht wird, den er selbst noch nicht ausreichend bearbeiten konnte. Wenn ihn die Situation mit dem Patienten so sehr an Schmerzhaftes aus dem eigenen Leben erinnert, dass er seinen Schmerz kaum noch für sich behalten kann, steigt der Analytiker sozusagen aus. Er antwortet vielleicht zu hastig, fühlt sich gefangen, wehrt ab, wird wütend oder lässt sich zu Handlungen oder Aussagen verführen, die er später bereut und von denen er denkt, er hätte sie besser unterlassen. Er kann die analytische Situation nicht mehr halten. All dies kann steht auch in enger Verbindung zum Wesen des Patienten und was er mit dem Analytiker „macht“. Analysieren heißt auch, zu versuchen auseinanderzupflücken, wo was verortet ist.
So kann der Analytiker die Nerven behalten
Doch woher nimmt man als angehender Analytiker die Kraft, die Spannung auszuhalten und sich in drängenden Momenten zurückzuhalten? Es ist neben der geleisteten „Verdauungsarbeit“ vielleicht auch eine Mischung aus Übung, Erfahrung und der inneren Überzeugung, dass es sich schon „lösen“ wird. In der Ausbildung lernt man: Wenn man als Analytiker der Verführung des Patienten nachkommt, kann man in Teufels Küche kommen. Andererseits muss man sich auch „verwickeln lassen“ und bestimmte Rollen übernehmen, um im Nachgang verstehen zu können, was eigentlich passiert. Das ist oft eine schwierige Arbeit, denn Themen wie Retraumatisierung, sexuelle Übergriffe und Missbrauch liegen hier entlang des Weges.
Übung hilft
Meditaion, Yoga, Tai Chi, Chi Gong, aber auch Musizieren, Sport und Tanzen in der Freizeit können helfen, Zurückhaltung in der analytischen Situation zu üben. Man kann es auch im Alltag üben: bei Heißhungerattacken, Ungeduld, Appetit auf eine Zigarette etc. Wenn man die eigene Regung bewusst wahrnimmt und sie nicht von sich weisen will, dann kann man oft feststellen, dass die Erregung nachlässt und nach einigen Minuten Ruhe einkehrt. Wenn man sich klar macht, dass Stillhalten ein sehr aktives Geschehen ist, dann merkt man zunehmend, wie fruchtbar es ist.
Wird es leichter?
Vielleicht fällt es jüngeren Analytikern schwerer, sich zurückzuhalten, als älteren. Es fällt schwerer, wenn man als Analytiker selbst in einer krisenhaften Lebensphase steckt, wenn es Partnerschaftsprobleme gibt oder wenn man wider Willen wieder alleine leben muss. Es fällt schwerer, wenn man müde ist oder krank wird. In Geldnot und zu Beginn der Ausbildung fällt es (vielleicht) schwerer als gegen Ende der Ausbildung. Jeder kennt Zeiten, in denen man sich gut zurücknehmen kann, in denen man Gutes gedeihen lassen will und Zeiten, in denen man angekratzt und auf Zerstörungskurs ist. Diesen Wechsel anzuerkennen, hilft, entspannter zu bleiben.
Warten können
Das Sich-Zurückhalten ist eine Übung, die jeden Tag geübt werden kann. Bei Aldi an der Kasse ebenso wie im Stau. Wer still sein kann und dies als wertvolle Fähigkeit betrachtet, kann oft viele freudige Überraschungen erleben. „Do I dare disturb the universe?“, fragte der Psychoanalytiker Wilfred Bion . Diese Frage ist immens wichtig. Wie kann ich es wagen, das Universum zu stören? Die Natur gedeiht dort am besten, wo der Mensch nicht eingreift. Wann und wie er eingreifen sollte, ist oft schwer zu beantworten. Die Analyse ist ein empfindliches System. Patient und Analytiker entwickeln sich oft dann am besten, wenn der Analytiker den Patienten und sich selbst in Ruhe lassen kann.
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