Wenn Eltern Alkoholiker sind, erleben die Kinder häufig das: Sie werden vom besoffenen Elternteil in ganz merkwürdiger Weise berührt. Da rutscht mal eine Hand aus, da ist ein „Tatscher“ wie aus Versehen, da wird es schmierig, unkontrolliert, beängstigend, wabernd. Der betrunkene Elternteil hat seine Bewegungen und sich selbst nicht mehr unter Kontrolle. Das Kind kann das nicht einordnen. Es ist abgestoßen, befremdet, vielleicht auch irgendwie „negativ-fasziniert“ vom Unbegreiflichen. Die Berührung hat vielleicht auch einen sexuellen „Touch“ mit all der Verwirrung. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Keine Berührung bitte!
Das Kind will diese Berührung nicht haben – es schämt sich, es ängstigt sich, ekelt sich, fühlt aber auf einer Ebene vielleicht auch so etwas wie Erregung, doch es spürt, dass hier etwas ganz und gar am falschen Platz und im falschen Zusammenhang ist. Es kann absolut nicht einordnen, was es da mit der betrunkenen Mutter/mit dem betrunkenen Vater erlebt.
Giftig
Sind die betroffenen Kinder erwachsen, fällt es ihnen oft sehr schwer, sich berühren zu lassen. Jede Berührung erscheint wie ein Gift, das unangenehme Gefühle und (unbewusste) Erinnerungen auslöst. Manche finden lange keinen Partner. Sie huschen an anderen vorbei, um nur ja keine versehentliche Berührung abzubekommen. Sie geben sich vielleicht „zugeknöpft“ und „stocksteif“. Der Kontakt zu Mitmenschen oder potenziellen Partnern wird sehr verkrampft. Manche leiden sogar unter einer dauerhaften Partner- oder/und Familienlosigkeit.
Wiederbelebung
Gerade in einer Psychoanalyse kann der/die Betroffene die alten Gefühle nochmal durchleben. Der/Die Betroffene lauscht ganz genau, was im Psychoanalyse-Raum passiert, wie sich der Analytiker/die Analytikerin hinter ihm bewegt und wie er/sie atmet. „Ist der Analytiker/die Analytikerin hinter mir noch nüchtern oder schon im Suff eingeschlafen?“, lautet die bange, oft unbewusste Frage. Bei der Begrüßung und beim Hineingehen in den Praxisraum werden vielleicht alte Gefühle geweckt: Der Patient/die Patientin huscht ängstlich am Analytiker/an der Analytikerin vorbei. Ein strammer, zielgerichteter Schritt zeichnet die Betroffenen manchmal aus. Bloß nicht reizen, nichts erwecken, nicht verführen, nicht zur Berührung animinieren. Es muss und soll „tot“ bleiben zwischen dem Betroffenen und dem anderen, es darf vor allen Dingen nicht zur Erregung, nicht zu unkontrollierten Bewegungen und Äußerungen kommen.
Das Leben des Betroffenen ist verkrampft
Um aus dieser Verkrampfung herauszukommen, ist dieser Weg möglich: Genau spüren, was da ist, die eigene Körperhaltung und Verkrampfung wahrnehmen, vielleicht die Phantasien bemerken, die man dazu hat und mit dem Therapeuten/Analytiker darüber sprechen. So kann es möglich werden, die innere Gespensterwelt genau wahrzunehmen und den Unterschied zur heutigen Außenwelt zu erkennen. Allerdings verlieben sich Kinder alkoholkranker Eltern nicht selten wieder in Alkoholiker, sodass die neue der alten Welt sehr ähnelt. Hier ist es wichtig, diesen „Wiederholungszwang“ zu verstehen.
Es bleibt – dann kann es anders werden
Das innere Ziel des Betroffenen ist es, dass doch noch irgendwie alles gut werden möge. Am Ziel ist der/die Betroffene jedoch erst, wenn er/sie begreift, dass „es“ nicht gut wird. Die Vergangenheit in all ihrer Problematik anzuerkennen, ermöglicht es, das Hier und Jetzt neu zu gestalten und realistischer wahrzunehmen, sodass das krampfhafte Verhalten irgendwann nach und nach gelöst werden kann.
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