Dein Leid, mein Leid, unser Leid? DAS Leid.

Es beginnt am Anfang des Lebens, an dem der Arzt der Mutter sagt: „Schmerzen unter der Geburt sind heute nicht mehr nötig.“ Eilig wird eine Periduralanästhesie (PDA) gesetzt. Als ob „Leiden“ unbedingt gleich „Schmerz“ sei. „Ich habe furchtbar unter der Blasen- und Beinlähmung gelitten und hinterher hatte ich höllische Kopfschmerzen“, sagt die Frau nach der Geburt. Wir wollen heute mit aller Macht das Leid beseitigen. Es sei nicht mehr nötig. Doch der Geburtsschmerz hat seinen Sinn und wenn die Frau gut begleitet wird, dann spürt sie diesen Sinn auch. (Text & Bild: © Dunja Voos)

„Ich muss das los werden!“

Viele Patienten kommen in die Praxis und sagen gleich zu Beginn: „Ich will das los werden!“ Sie leiden ganz schrecklich unter ihren Symptomen. Sie versuchen, ihnen davonzulaufen oder sie mit Medikamenten zu betäuben – was verständlich ist, denn meistens waren sie mit ihrem Leid bisher allein. Hinzu kommt eine Art „Gut-geh-Stress“. Viele sagen sich: „Wenn ich leide, dann mache ich etwas falsch. Leiden ist bei den Möglichkeiten unserer modernen Medizin und Psychotherapie nicht mehr notwendig. Ich schäme mich für mein Leiden und ich will, dass es weg geht.“

Ich leide mehr als Du!

Manchmal fühlen wir uns so verzweifelt, weil wir das Gefühl haben, niemand versteht uns und weil wir gleichzeitig glauben, dass unser Leid das größte sei. Es gibt aushaltbaren und unaushaltbaren Schmerz, tragbares und nicht mehr tragbares Leid. Wenn es „zu viel“ wird, wenn das Leid uns überschwemmt, halten wir es nicht mehr aus. Manchmal sind Suizidgedanken oder gar Suizid die Folge, weil Schmerz, Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit zu groß geworden sind.

Ein besonderes Problem bleibt dabei das „Zuviel“. Wenn es uns zuviel wird, dann laufen wir über: Wir übergeben uns, bekommen Durchfall, wir weinen, schreien, fliehen, verlieren das Bewusstsein oder sterben. Besonders beim „akuten Zuviel“, bei der „Katastrophe“ spüren wir, dass wir auch existenziell bedroht sein können. Es ist eine grausame Bedrohung.

Von akut zu chronisch

Nach dem Akutstadium kommt manchmal das chronische Leid. Die Frage ist dann oft: Was hilft gegen das chronische „Zuviel“? Wie kann Leid so behandelt werden, dass es handhabbar wird? Wenn ich leide und es ist jemand da, der mich liebt, dann wird das Leid dadurch häufig erträglicher. Wenn der, der mich liebt aber mein Partner oder meine Eltern oder meine Kinder sind, wird das Leid auch schwerer, weil wir nicht wollen, dass der andere mitleidet. Bei Depressionen kann das Leid (erstmal) wieder kleiner werden, wenn wir den Liebenden verlassen. Leid hat immer mit Beziehung zu tun bzw. dem Fehlen von Beziehung.

DAS Leid

Der Philosoph Jiddu Krishnamurti (1895-1986) hat viel zum Thema Leiden gesagt (siehe Youtube). Er sagt, dass es nicht nur „mein Leid“ und „dein Leid“ gibt. Das Leid von Eltern, die ihren Sohn verloren haben – mit was kann es verglichen werden? Ist das Leid des Kindes, das sich das Knie aufschlägt oder das den Teddy verliert für den Moment anders? Ist es kürzer? Krishnamurti spricht von „Das Leid“. Es ist „das Leid“, das alle Menschen verbindet. Darum weinen wir auf Hochzeiten oder bei Filmen. Wir verstehen „das Leid“ und wenn wir jemanden anschauen, der leidet, fühlen wir uns an unser eigenes Leid erinnert. Es berührt uns. Der Gedanke an das Verbindende, an „das Leid“, kann unser eigenes, höchst individuelles Leid vielleicht ein bisschen lindern.

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