„Du musst es deinem kleinen Bruder erklären!“, mahnt die Mutter ihr Kind, nachdem es den kleinen Bruder geschubst hat. Doch Kleinkinder können mit Erklärungen oft sehr wenig anfangen. Ihnen geht es wie Erwachsenen mit schweren psychischen Störungen, die „einfach nichts einsehen wollen“. Da appelliert die Kindergärtnerin an das Gewissen des Kleinkindes und die Polizei an das Gewissen des Kriminellen. Doch das Problem ist: Die psychische Struktur, die angesprochen werden soll (das „Über-Ich“), ist kaum vorhanden. Wird der Affekt nicht erreicht, verändert sich gar nichts. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Voreilig
„Nun habe ich mit dem Patienten schon alle Gedankenexperimente durchlaufen, aber es ist immer wieder so, als hätte er noch nie etwas davon gehört.“ Der Psychotherapeut ist resigniert. Wir machen bei der Psyche oft denselben Fehler: Wir glauben, wir könnten, wenn wir nur wollten, wir glauben, die Psyche sei unendlich dehnbar und man müsse nur tüchtig genug wollen und gut mitmachen, damit psychisch etwas in Bewegung kommt. Natürlich gibt es die Widerstände, sodass wir uns vor mancher Entwicklung sträuben. Doch andererseits verkennen wir allzu oft, dass auch die Psyche ihre Entwicklungsstufen und Grenzen hat, genau wie der Körper. Das Baby kann noch keine feste Nahrung zu sich nehmen und das Kleinkind kann mit der Hand das Ohr noch nicht erreichen, wenn es den Arm über den Kopf legt. Wenn die Geschlechtsorgane noch nicht ausgereift sind, ist eben noch kein gesunder Geschlechtsverkehr möglich.
Langsam
In der Psychoanalyse müssen die Therapeuten Schritt für Schritt vorgehen – das ist ein wesentlicher Grund, warum die Analysen so lange dauern. Es ist bei sehr schwer gestörten Patienten ähnlich wie bei der Kleinkindentwicklung: Vor der Sprache steht die nonverbale Kommunikation und das Gefühl des verschmolzenen Verbundenseins. Manche Psychoanalytiker sind daher auch der Meinung, dass das Schweigen in der Psychoanalyse lange ausgedehnt werden kann, wenn es sich ergibt und es dem Patienten gut tut. Andere sind der Meinung, längeres Schweigen führe zu alptraumähnlichen und retraumatisierenden Zuständen, sodass es nicht entstehen dürfe. Das ist von Patient zu Patient, von Sitzung zu Sitzung unterschiedlich. Doch wenn gerade am Anfang der Analyse häufig geschwiegen wird, erinnert es an die frühe Mutter-Kind-Beziehung, in der noch keine Worte ausgetauscht werden.
Worte werden gefunden
Irgendwann kommt die Sprache hinzu. Man kann sich mehr und mehr über Worte verständigen. Noch in der Symbiose kommt die „Spiegelung“: Die Mutter spiegelt dem Kind, wie es ihm geht. Der Therapeut benennt die Gefühle des Patienten (Affektklarifizierung). Das Kind muss sich erst einmal selbst kennenlernen. Erst, wenn es sich in Sicherheit erkunden darf und Worte gelernt hat, kann es sagen, wie es sich fühlt. Es kann kommunizieren.
Das Dritte kommt hinzu
Das kleine Kind nimmt den Vater in der Mutter-Vater-Kind-Beziehung bewusster wahr: es „trianguliert“. Und so kann man auch bei fortschreitender Psychoanalyse irgendwann feststellen, dass der Patient beginnt, zu triangulieren. Andere nahestehende Personen werden wichtiger, Ideen und die Krankenkasse spielen eine Rolle. Es erweitert sich so auch die Fähigkeit, zu symbolisieren.
Im Alter von etwa fünf Jahren kann sich das Kind bei gesunder Entwicklung in einen anderen hineinversetzen: Es wird möglich, mit dem Kind Spiele zu spielen, die es erfordern, dass das Kind sich denken kann, was im anderen vorgeht. Das Kind lernt, zu „mentalisieren“. Und so lässt sich auch im Verlauf der Analyse oft feststellen, dass die Mentalisierungsfähigkeit eines Patienten besser wird. Er versteht dabei vielleicht zunehmend, dass er nicht allwissend ist, dass er nicht in den Therapeuten hineinschauen kann und umgekehrt.
Von der Objektverlust-Angst zur Liebesverlust-Angst
Ein Baby oder Kleinkind hat zunächst Angst, dass ihm die Mutter abhanden kommt. Trennungen führen zu großer Angst, weil das Kind merkt: „Ohne die Mutter (ohne einen Erwachsenen) überlebe ich nicht.“ Und so ist gerade am Anfang der Behandlung bei manchen Patienten der Therapeut nur dazu da, Ängste zu nehmen und zu beruhigen. Im Laufe der Kindesentwicklung kommt das Liebesband bewusster hinzu und das Kind hat Angst, die Liebe der Mutter zu verlieren. Auch das lässt sich im Verlauf einer Analyse dann beobachten: Der Patient möchte dem Therapeuten gefallen und hat Angst, seine Zuneigung zu verlieren.
Das Gewissen
Im Alter von 5-6 Jahren verstärkt sich beim Kind das Gewissen enorm. Die Polizei ist das Größte und die Kleinen sagen anderen gerne, was „man“ macht und was nicht. Ein Gewissen, also sozusagen das „Über-Ich“, entsteht über eine gute Bindung. Erst, wenn ich den anderen mag und verstehe, dass ich ihm weh tun kann, kann ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich falsch gehandelt habe.
Ein „Gewissen“/ein Über-Ich entsteht erst im Laufe der Entwicklung. Und so ist es auch bei schwer gestörten Patienten: Das Anti-Aggressionstraining bringt manchmal nur wenig, wenn der Betroffene keine Beziehung erlebt hat, für die sich ein schlechtes Gewissen sozusagen „lohnen“ würde. „Aber schauen Sie doch mal, Herr Meier, so können Sie das nicht machen, damit verletzen Sie doch den anderen!“, kommt oft einfach nicht an. Der Appell an das Gewissen läuft ins Leere. Erst, wenn Herr Meier eigene Schmerzen wahrnehmen kann, eine Beziehung aufbauen konnte und sich in den anderen hineinversetzen kann, kann der Appell ans Gewissen nützlich sein.
Das Mitgefühl
Zunächst ist die Mutter der „Container“ für die Gefühle des Kindes. Im Laufe der Beziehung wird diese Mutter sozusagen in der Seele des Kindes verankert, sodass das Kind sich selbst trösten kann, wenn es Schmerz empfindet. In der Analyse ist es ähnlich: Zuerst ist der Analytiker der Container des Patienten. Im Laufe der Zeit nimmt der Patient dieses Beziehungsbild in sich auf. Er fühlt sich mit sich selbst nicht mehr so alleine und kann sich selbst bis zu einem gewissen Grad halten, wenn es ihm nicht gut geht.
Diese Entwicklung ist weitaus sinnvoller, als wenn man dem Patienten sagt: „Sie sind doch erwachsen! Das müssen Sie schon aushalten!“ Wenn der Patient spürt, dass der Analytiker seinen Schmerz wirklich nachempfinden kann, kommt er aus der Isolation heraus. Er fühlt sich verbunden und wird es oft schaffen, sich selbst mit demselben Mitgefühl anzuschauen, wie es der Analytiker tat.
Überblick
Diese Entwicklungsschritte werden durch das „asymmetrische Setting“ in der Psychoanalyse ermöglicht: Der Analytiker sitzt und behält den Überblick, während der Patient auf der Couch liegt. Der Patient entwickelt kindliche Gefühle und spürt (wenn es positiv verläuft), dass der Analytiker ihn hält. Der Analytiker hat den Überblick und kann dem folgen, was gerade „dran“ ist.
Im Laufe der Psychoanalyse kommt es zur Reifung und so sehnt sich auch so mancher Patient an den Anfang der Psychoanalyse zurück, selbst, wenn die psychischen Leiden sehr quälend waren. Es kommt nach den ersten „Flitterwochen“ vielleicht zu einer Latenzzeit, dann zu einer Art „Pubertät“, zum Erwachsenwerden und schließlich zur Trennung. Am Ende ist der Patient dankbar für Entwicklungen, die gut verlaufen sind und traurig über Entwicklungen, die nicht zum Ziel führten oder die ihm das Leben schwerer machten. Es wird sein wie nach der Zeit bei den Eltern: Manches war gut, manches schlecht, wobei man gesünder geworden ist, wenn die Psyche noch wachstumsfähig und der Analytiker ein „ausreichend guter Analytiker“ war.
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