
„Borderliner suchen ja immer die Katastrophe“, sagen manche. Nun, es sind wohl nicht nur die Borderliner. Und ob die Menschen die „Katastrophe suchen“, ist zu hinterfragen. Oft übersehen Therapeuten die harten Realitäten von Menschen, denen es psychisch sehr schlecht geht. Sie wuchsen meistens schon in desolaten Zuständen auf und fanden mühselig ihren Weg heraus. Zwischenmenschliche Kontakte fallen ihnen oft schwer, weil sie sich entweder rasch verlassen oder rasch bedrängt fühlen. (Text & Bild: © Dunja Voos)
Alles hängt an einer Person
Häufig kommt es zu katastrophalen Situationen, weil die Kinderbetreuung nicht gewährleistet ist, weil die Finanzen knapp werden oder die Grippe nicht vergehen will. Das fragile System bricht leicht zusammen. Viele leben heute tatsächlich am Rand der Katastrophe. Was jedoch manchmal hinzu kommt, ist, dass dieser „Rand der Katastrophe“ auf merkwürdige Weise auch Geborgenheit vermitteln kann.
In der Katastrophe weicht die Einsamkeit
Wenn die Katastrophe da ist, fühlen sich viele zwar allein, aber das quälende Einsamkeitsgefühl scheint gewichen zu sein. Man ist beschäftigt mit der Katastrophe und auch irgendwie „gehalten“, denn in der Katastrophe wird das katastrophale Bild zur Gewissheit. Man weiß dann, was man hat. Man sieht den Feind, man spürt genau, was das Leiden verursacht. Ist hingegen alles ruhig, kann sich das wie eine latente Gefahr anfühlen. „Wann kommt der nächste Absturz und wie sieht er aus?“, fragt man sich.
Die Angst wächst fernab der Katastrophe
„Als ich noch mit meinem schlagenden Partner zusammen war, hatte ich das Gefühl, ich konnte ihn kontrollieren. Jetzt, wo ich weit weg bin, frage ich mich immer, ob er nicht hinter der nächsten Ecke steht, um mich zu überfallen. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit ist manchmal schlimmer als die konkrete Nähe zu ihm“, sagen viele Frauen, die in ihrer Partnerschaft Gewalt erlebt haben. Der Katastrophe ins Gesicht zu schauen kann Sicherheit bieten. Es ist ein großes Paradox. Aber die Katastrophen sind immer wieder kaum auszuhalten. Die meisten Betroffenen wünschen sich ein ganz normales Alltagsleben – doch sie haben es eben so selten.
Der Weg ist lang
Der Weg weiter weg von der Katastrophen-Kante ist un-glaub-lich lang. Manche denken, mit ein paar Korrekturen hier und da sei es getan. Doch der Weg dauert jahre- und jahrzehntelang. Es muss langsam Geld hinzukommen, es müssen langsam Freundschaften aufgebaut werden, die über Jahre wachsen und stabil werden, es müssen die Kinder größer werden, es müssten vielleicht manche Menschen erst sterben, es muss ein gutes Selbstgefühl wachsen und die Fähigkeit, Gefühle des Schmerzes, des Gequetschtseins, des Alleinseins, des Aufruhrs und der Ungeduld zu ertragen. Lange dauert das. Sehr lange. Aber man kann jeden einzelnen Moment etwas dafür tun, dass es besser wird. Und selbst wenn es nur ist, die nächste Katastrophe bewusster zu erleben oder sich für eine Weile ins Bett zurückzuziehen und gar nichts zu tun. Kommt die Kraft zurück, kann man langsam weiterschauen. Langsam, aber stetig.
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