
Im WDR „Frau-TV“ (24.11.2016) sagen bekannte Journalistinnen: „Du bist nicht schuld!“ Sie sprechen damit Frauen an, die geschlagen und vergewaltigt werden, die Mobbing-Opfer sind oder auch nur im Vorübergehen „versehentlich“ berührt wurden. Doch aus der psychoanalytischen Praxis weiß ich: Solche Videos helfen nur bedingt. „Lass es Dir bloß nicht einreden“, sagt Sabine Heinrich im Video abschließend. Doch die Schuldgefühle sind häufig schon da – sie lassen sich weder ein- noch ausreden. Woher kommen sie? (Text & Bild: © Dunja Voos)
Mobbing
„Morgen kommt eine neue Kollegin in Ihre Abteilung – sie wurde in der alten Abteilung gemobbt“, sagt der Chef. Keine zwei Wochen später wird sie auch in der neuen Abteilung gemobbt. Wer ist nun „schuld“? Ist es Zufall, dass in der alten und in der neuen Abteilung „gleich böse Mitarbeiter“ sitzen? Das „Mobbing-Opfer“ beginnt eine Psychoanalyse. Schnell wird klar, dass sie irgendetwas an sich hat, das andere dazu provoziert, sie zu mobben. Lange jedoch bleibt unklar, was es ist. Erst im Verlauf der Analyse lassen sich die Zusammenhänge verstehen und die Mobbing-Situationen hören auf, weil die Frau sich selbst nicht mehr ausgeliefert ist und Einiges ändern konnte. Sie entwickelte mehr Selbstliebe, konnte sich besser pflegen und roch nicht mehr so unangenehm.
Mutter ist schuld
„Immer ist die Mutter schuld“, klagen Mütter. Jede Mutter weiß selbst, welche Narben sie aus ihrer eigenen Beziehung zur Mutter davongetragen hat. Doch sind die Mütter „schuld“ gewesen? Viele Töchter leiden darunter, dass die Mütter ihre Schuld nicht „einsehen“, dass sie sich niemals entschuldigen, dass sie nie anerkennen, welches Leid sie den Töchtern und Söhnen angetan haben. Doch mit der Schuldspirale kommt es nie zu einer Lösung. Die Mütter waren selbst gefangen. Sie schämen sich. Sie haben zu wenig Abstand, um das sehen zu können, was die Töchter sehen.
Subtil
Bei psychischen Erkrankungen lässt sich so oft kaum sagen, wo die „Schuld“ liegt. Viele „Opfer“ werden später selbst zu „Tätern“. Was weitergegeben wird, ist das Unverarbeitete. Das Unverarbeitete liegt im Unbewussten. Und das Unbewusste hat oft keine Worte. Dennoch will jeder Mensch das, was ihm angetan wurde, irgendwie los werden oder reparieren. Viele Opfer wollen auch die Täter „reparieren“, denn sie spüren die Not dahinter. Und hier fängt das an, was wir als „Schuldgefühl“ von Opfern kennen: Die Worte sind nicht da. Das Verstehen ist nicht da. Um sich und vielleicht auch den anderen zu „reparieren“, machen die „Opfer“ das Geschehene wieder lebendig, indem sie es reinszenieren. Nicht immer natürlich. Man kann auch in die Schusslinie eines Täters mit Halluzinationen geraten. Aber das ist wohl eher die seltenere Variante.
Manchmal hat das Schuldgefühl auch eine „logische“ Funktion: Wer sich schuldig fühlt, der fühlt sich nicht mehr ganz so ohnmächtig. Er hat das Gefühl, selbst etwas zur Situation beigesteuert zu haben. Oft finden wir diesen Selbstschutz-Mechanismus bei Todesfällen naher Angehöriger: „Hätte ich doch an dem Tag dies oder jenes, dann wäre das nicht passiert. Ich bin schuld.“ Zu verstehen, dass man selbst rein gar nichts hätte tun können, um das Unglück zu verhindern, ist oft sehr schwer auszuhalten.
Reinszenierung
Wer keine Worte für Unverstandenes findet, der stellt in der Realität wieder altbekannte Situationen her. „Dass Du gestalkt wirst, liegt daran, dass Du zu lieb bist!“, sagt die Freundin. „Wirklich? Das kann doch jedem passieren!“, entgegnet das Opfer. Ja, irgendwie schon. Aber auch irgendwie nein, wenn man sich verschiedene Frauen anguckt: Manche Frauen wirken verletzlicher, angreifbarer als andere Frauen. Manche Frauen haben furchtbare Dinge erlebt, die sie nie verarbeiten konnten. Sie sind geschwächt und suchen sich nicht selten Partner, die selbst geschwächt sind.
„Aha, hat die Frau nun auch noch Schuld, weil sie sich den falschen Partner ausgesucht hat?“, könnte man erbost fragen. Nein, denn auch die Partnersuche hängt von der eigenen Lebensgeschichte und der unbewussten Suche nach Heilung ab.
Die Psychoanalyse deckt auf
Oft nur in der Psychoanalyse wird deutlich, was genau geschieht: Das, was unverstanden war, soll wiederhergestellt werden. Die geschlagene Frau geht – oft aus Angst, aber auch aus anderen Gründen – zum schlagenden Mann zurück. Das geschlagene Kind tritt im Kindergarten ausgerechnet der Lieblings-Erzieherin vor’s Schienbein. Es wirkt übertrieben, was da passiert, völlig dramatisch. Aber wenn die Betroffenen eine Psychoanalyse machen, stellen sie auch in der Analyse rasch wieder eine altbekannte Situation her. Nicht, weil sie Spaß daran hätten – sondern, weil sie versuchen, das Problem sichtbar zu machen und in Worte zu fassen. Das ist mit ein Grund für immer wieder auftauchende Schuldgefühle.
Ich halte meine Wunde hin
Die Re-Inszenierung liegt immer nah. Manche zeigen ihre Wunde offen hin und sagen praktisch: „Schlag nochmal zu.“ Nicht alle, nicht immer, nicht jede/r macht es so. Aber viele eben doch. Es ist ein verzweifelter Versuch, die Dinge zu reparieren, herauszukommen aus der alten Welt. Die meisten Frauen reinszenieren Altbekanntes unbewusst. Sie sind nicht „schuld“, weil sie nicht bewusst etwas verursachen, was eine bestimmte Konsequenz hat.
Die Betroffenen „suchen“ nach den passenden Partnern
Natürlich darf man nicht zuschlagen, wenn einem die Wange hingehalten wird. Doch zur Reinszenierung gehört, dass sich die Betroffenen mit anderen Betroffenen zusammentun, die sehr Ähnliches erlebt haben und nun auch nach einer Lösung suchen. „Ich will sie ja nicht stalken, aber ich kann nicht anders! Ich halte die Trennung nicht aus! Ich würde mich sonst umbringen“, sagt der Stalker in der Analyse. Er ist ebenso verzweifelt wie sein Opfer.
Schuldgefühle werden nicht eingeredet – sie sind da
Die Schuldgefühle sind da und werden immer wieder ausgelöst. So manche Frau, die sich den Fernseh-Spot anschaut, mag denken: „Ich habe trotzdem Schuldgefühle – was ist falsch mit mir?“ Durch den Spot im WDR fühlt sich vielleicht auch so mancher Mann angegriffen. „Zu Recht!“, möchte man spontan sagen. Aber ist das gut? Kann man nach Hilfe suchen, wenn man angeklagt wird? Es ist und bleibt kompliziert. Natürlich ist es die Absicht des WDR-Spots, Opfer zu entlasten. Und sicher wirkt er auch bei vielen Betroffenen entlastend. Doch die große Sehnsucht nach Schuldentlastung kann manchmal zu Aktionen führen, die verwirren und die die Suche nach tiefgreifender Hilfe hinauszögern.
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