Sogenannte „persönlichkeitsgestörte Menschen“ erkennt man gelegentlich auf den ersten Blick. Manchmal sind es die bunten Früchtchen unter uns: der eigenbrötlerische Professor, der cholerische Chef, der komische Kauz von nebenan. Auch manche Stars sind persönlichkeitsgestört. Doch Persönlichkeitsstörungen müssen nicht auf den ersten Blick auffallen, denn die Persönlichkeitsstörung ist eigentlich eine Beziehungsstörung, die sich oft erst nach einer Weile bemerkbar macht.
Wie häufig kommen Persönlichkeitsstörungen vor? (Fachdeutsch: Wie hoch ist die Prävalenz?)
Persönlichkeitsstörungen sind relativ weit verbreitet – z.B. leiden knapp 3% der Menschen in Deutschland an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (Dtsch Arztebl Int 2014; 111(16): 280-6; DOI: 10.3238/arztebl.2014.0280). Narzisstische Persönlichkeitsstörungen kommen bei etwa 1% der Allgemeinbevölkerung vor (Professor Volker Faust: Narzissmus, S. 25, Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Gesundheit PDF). In West-Europa und den USA haben etwa 4-15% der Menschen eine Persönlichkeitsstörung (Torgersen S et al. 2001, Coid J et al., 2006).
Traumatisiert
Auch, wenn der Begriff „Persönlichkeitsstörung“ scheinbar nichts Gutes verheißt, leben viele Betroffene „ganz normal“ in ihrer Familie und sind erfolgreich im Beruf. Manche können ihre „Störung“ – vielleicht sollte man besser sagen „Verletzung“ oder „Beschädigung“ – in eine Stärke umsetzen. Andere wiederum leiden „irgendwie“ sehr an ihrem Leben, ohne, dass sie ihr Leiden genauer benennen könnten.
Einsam und besonders
Der Begriff „Persönlichkeitsstörung“ wird in Lehrbüchern zwar auf und ab definiert. Doch tatsächlich ist es gar nicht so leicht, die Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ zu stellen. Entscheidend ist das Leiden. Bei einer Persönlichkeitsstörung leidet der Mensch in besonderer Weise entweder an sich selbst oder andere leiden unter ihm. Häufig ist beides der Fall. Die Betroffenen können häufig keine befriedigenden Beziehungen knüpfen. Wenn bestimmte Persönlichkeitsmerkmale stark ausgeprägt sind, sprechen Psychologen auch von „akzentuierten Persönlichkeitsmerkmalen“. Oft gelingt es dem Betroffenen nicht, sich selbst zu verwirklichen.
Kein Symptom im Vordergrund
Einige Betroffene haben einen enormen Leidensdruck, doch sie können kein Leitsymptom nennen, wie es z.B. Patienten mit einer Angststörung oder Depression können. Andere leben bestens damit, wie sie sind: Sie sind „gut kompensiert“. Die Betroffenen wundern sich vielleicht darüber, dass sie manchmal von nahestehenden Personen aufgefordert werden, eine Therapie zu machen. Sie bemerken ihre „Macken“ nicht, denn ihr Verhalten ist Ich-synton – das bedeutet, dass dem Betroffenen das eigene Verhalten nicht fremd oder fragwürdig vorkommt. Oft fehlt es den Betroffenen an Flexibilität. Häufig würden sie gerne anders sein und handeln, aber sie können es irgendwie nicht.
Alte Wunden
Die Ursachen der Persönlichkeitsstörungen liegen meist in der frühen Kindheit. In der psychoanalytischen Theorie heißt die Persönlichkeitsstörung auch „Charakterneurose“ und zählt zu den Frühen Störungen. Typische Persönlichkeitsstörungen sind die narzisstische und die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Im Erwachsenenalter entstehen Persönlichkeitsstörungen manchmal nach lang anhaltenden Extremsituationen.
Hirnorganische Erkrankungen
Natürlich können auch Hirnerkrankungen wie Tumore oder Schlaganfälle die Persönlichkeit verändern, was dann als Psycho-organisches Syndrom (POS) oder Hirnorganisches Psycho-Syndrom (HOPS) bezeichnet wird.
Einteilung in Cluster
Nach dem amerikanischen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) werden die Persönlichkeitsstörungen in „Cluster“ unterteilt. Die Einteilung sieht so aus:
- Cluster A: Persönlichkeitsstörungen mit absonderlichem/exzentrischem Verhalten: paranoide/schizoide/schizotypische Persönlichkeitsstörungen
- Cluster B: Persönlichkeitsstörungen mit dramatischem Verhalten: Borderline/emotional instabile/histrionische/narzisstische/antisoziale Persönlichkeitsstörung
- Cluster C: Persönlichkeitsstörungen mit ängstlichem Verhalten: vermeidend-unsichere/dependente/zwanghafte Persönlichkeitsstörungen
Ursachen in der Kindheit, Hilfe jetzt
Wer schon länger „irgendwie unglücklich“ ist und am Leben leidet, ohne genau sagen zu können, was eigentlich los ist, der hat manchmal Hemmungen, einen Therapeuten aufzusuchen. Doch gerade die psychoanalytische Therapie und die Psychoanalyse können bei Persönlichkeitsstörungen sehr hilfreich sein. Therapeuten-Adressen finden Sie auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT).
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Dieser Beitrag erschien erstmals im Jahr 2006.
Aktualisiert am 7.1.2015
Pjor meint
Zur Begrifflichlichkeit: Anstelle von Persönlichkeitsstörung > Persönlichkeitsstruktur (?).
Dunja Voos meint
Hallo BP,
ich bin genau Ihrer Meinung: die „Persönlichkeitsstörung“ oder „Störung“ sind „Unworte“. Daher setze ich diese Begriffe meistens auch in Anführungszeichen. Es ist wirklich an der Zeit, hier neue Begriffe zu finden und zu verwenden.
Viele Grüße
Dunja Voos
BP meint
Ich empfinde es als zusätzlich verletzend, wenn helfende Menschen, nennen wir sie mal Arzt oder Psychologen, von einer Störung sprechen. Ich persönlich bezweifel zu tiefst das eine wirkliche Störung existent ist…wie auch hier erwähnt liegt ein Großteil der Ursachen in WUNDEN aus Kindheitstagen und ich denke das die Umdefinition von Störung zu Wunde erforderlich ist.
Wunden kann man pflegen, versorgen und heilen. Eine Störung ist ein Umstand, eine Trennung und mit Sicherheit eher etwas, was auf den Patienten selbst störend wirkt und ggf. werdend ist. Aber mit Sicherheit ist es für den betreffenden Menschen störend, aber gestört….ich wage zu bezweifeln das damit der richtige Impuls zur richtigen Richtung gesetzt wird und wünsche mir selbst ein Anfag und Begin des Umdenkens von Menschen die die Zulassung zu haben, zu behandeln oder zumindestens in der Lage sind Worte zu publizieren.
Sönke Behnsen meint
Vielen Dank für Deinen Beitrag. Der Umgang mit dem Begriff und der Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ ist schwierig, und als ich den Beginn Deines Beitrags mit den „bunten Früchtchen“ las, überlegte ich auch, ob das wirklich zutrifft. Dass das die persönlichkeitsgestörten Menschen sind.
Ich neige dazu, die Störungen der Persönlichkeitsentwicklung in ihrem Ergebnis noch etwas zu differenzieren, und damit den Entwicklungsaspekt hervorzuheben. Dann sind die Menschen mit so akzentuierten Persönlichkeitseigenschaften nicht gleich im Sinne unseres Krankheitsbegriffs krank, sondern „haben eine Persönlichkeit“, die auch unter bestimmten Umständen störend wirkt.
Dann kann der cholerische Chef z.B. auch ein Mensch sein, der eigentlich nicht so gestört wäre, wenn er nicht ständig unter einem solchen Druck stünde. Oder der eigenbrödlerische Professor ist eben ein Mensch mit besonderen Persönlichkeitszügen.
Mir scheint die Unterscheidung wichtig, um nicht der Versuchung zu unterliegen, den Störungsbegriff zu schnell und zu weit auszudehnen, was m.E. eine der großen Gefahren ist, die im heutigen Umgang mit Persönlichkeitsstörungen steckt.