Obwohl die Vojta-Therapie bei Babys sehr umstritten ist und viele Mütter zweifeln lässt, sieht es nicht so aus, als könne sie bald „ins Gruselkabinett verbannt“ werden (siehe „Kritische Expertenstimmen“). Doch woran liegt es, dass ein Ende dieser – wie ich finde furchtbaren – Methode nicht in Sicht ist? Hier ein paar Gedanken.
Falsche Bahnen zu verlassen, ist nicht einfach
Wenn Geisterfahrer auf der falschen Bahn sind, fahren sie gelegentlich schneller und schneller, immer in der Hoffnung, dass eine Ausfahrt kommt. Ähnlich ist es im alltäglichen Leben auch: Wenn ich merke, dass ich auf einem falschen Weg bin, ist es oft umso schwieriger, diesen Weg zu verlassen, je länger ich ihn schon gehe. Manchmal klebt man regelrecht auf falschen Wegen – einerseits in der Hoffnung, es könnte sich plötzlich ein Ausweg zeigen. Andererseits fühlt man sich möglicherweise wie ein Verlierer, wenn man den eingeschlagegen Weg aufgibt. Manche Wege können wie eine Sucht sein, obwohl man genau weiß, dass sie falsch sind. Immer mehr muss man sich innerlich rechtfertigen, immer größer wird die Scham, weil man einen falschen Weg bewusst weiter geht. Das Loslassen kann zu einem richtigen Kraftakt werden.
Zweifel werden erstickt
Übersetzt auf die Vojta-Therapie mag das heißen: Nachdem die Mütter sich erst einmal auf die Vojta-Therapie eingelassen haben, ist es manchmal schwer für sie, diesen Weg wieder zu verlassen. Wir haben hier eine Therapieform, bei der Mütter mit Schuldgefühlen kämpfen und bei der die Grenzen des Kindes überschritten werden. In der ersten Vojta-Stunde mag die Mutter noch den Impuls verspüren, das Kind aus dieser schrecklichen Situation zu befreien. Doch die Physiotherapeutin beschwichtigt – sie sagt, das Kind schreie nur aufgrund der Anstrengung, obwohl die Mutter Angst und Verzweiflung aus dem Schreien ihres Babys hört. Die Mutter unterdrückt daraufhin ihre Zweifel und lässt sich auf diesen Weg ein – schließlich will sie sich später keine Vorwürfe machen, wenn ihr Kind sich möglicherweise nicht richtig entwickelt. Eine Mutter drückte es in meiner Umfrage so aus:
„Mein Baby lacht und strahlt nach der Therapie“
Häufig stellen Mütter fest, dass ihr Baby nach der Therapie lacht. Sie interpretieren es so, dass es ihm gut geht und dass die Therapie ihm gut getan hat. Doch die Babys lächeln in dieser Situation wahrscheinlich aus einem anderen Grund: Sie sind schlichtweg erleichtert, dass die Qual ein Ende hat. Auch wir Erwachsenen lächeln befreit, wenn wir aus einer angsterregenden Situation befreit wurden. Die Babys lächeln die Mama außerdem an, um sie „zur Liebe aufzufordern“ – vielleicht in der Hoffnung, dass ihnen die Therapie nicht noch einmal geschieht.
„Mein Baby kann sich später ja nicht erinnern“
Diese Meinung ist nach heutigen Erkenntnissen falsch. Frühe Erfahrungen wie die der Vojta-Therapie werden im „impliziten Gedächtnis“ abgespeichert. Das Kind kann sich später an Stimmungen, Gefühle, Situationen, Atmosphäre etc. in dem Sinne „erinnern“, dass es sich zum Beispiel in bestimmten Situationen unwohl fühlt. Häufig ist die unbewusste Erinnerung an Zeiten, in denen wir noch keine Worte hatten, viel schlimmer als an bewusste Erinnerungen, die wir in Worte fassen können. Außerdem werden die Erfahrungen in das Körpergedächtnis eingeschrieben. Was das bedeutet, wird zur Zeit gerade erst erforscht.
„Mein Baby freut sich auf die Therapie, fordert sie ein, lächelt die Therapeutin an“
Auch das sollte kein Argument für die Therapie sein. Kinder, die von ihren Eltern beispielsweise misshandelt wurden, fordern auch als Erwachsene noch ein, dass andere sie schlecht behandeln oder gar quälen. Kinder suchen immer das auf, was sie kennen – auch das, was ihnen möglicherweise nicht gut tut. Extrem gesprochen: Es gibt auch masochistische Erwachsene, die es genießen, wenn man ihnen Schmerzen zufügt. Kinder, die gequält werden, können das psychisch oft nur überleben, indem sie die schreckliche Situation umkehren („pervertieren“) und daraus ein Wohlgefühl gewinnen. Sie bringen sich selbst dazu, das Schlimme zu „genießen“, um ihre Verzweiflung zu bewältigen.
„Unsere Beziehung wurde durch die Therapie sogar gekräftigt“
Die Vojta-Therapie trübt wahrscheinlich die meisten Mutter-Kind-Beziehungen. Viele Mütter sind natürlicherweise „betrübt“ und beenden die Therapie. Mütter, die die Therapie fortführen, sagen gelegentlich, dass die Vojta-Therapie ihre Beziehung zum Kind sogar gestärkt habe. Das kann verschiedene Gründe haben: Extreme Situationen verbinden Menschen. Wenn ich mit jemandem für Stunden im Aufzug steckenbleibe, habe ich hinterher eine recht enge Bindung zu ihm. Zudem können andere, wie zum Beispiel der kritische Ehemann, als „gemeinsamer Feind“ erlebt werden, was die Bindung zum Kind enger werden lässt.
Auch Gewaltsituationen verbinden die beteiligten Menschen auf besondere Weise. Ebenso sind zum Beispiel Paare, die einen Autounfall zusammen erlebt haben oder zusammen ein schweres Schicksal meistern mussten, erst einmal enger aneinander gebunden als Paare, die einen „normalen Alltag“ leben. Die Bindung mag durch die Vojta-Therapie enger erscheinen – aber es ist die Frage, ob das eine „gute Bindung“ ist.
Versteckte Aggressionen unter dem Deckmäntelchen der „guten Therapie“
Viele Mütter erlauben sich keinerlei Aggression. „Mütter sind nicht aggressiv“, so die allgemeine Meinung oder zumindest der allgemeine Wunsch. Mütter, die sich selbst besonders kritisch beäugen, verdrängen jegliche Aggression. Sie verbieten sie sich. Doch auch diese Mütter sind natürlich „aggressiv“. Aggressionen gehören zum Muttersein genauso dazu wie Liebe auch. Natürlich wird eine Mutter wütend, wenn ihr Kind sie aus dem Tiefschlaf reißt, wenn es den Teller versehentlich herunterwirft oder „schon wieder“ Fieber hat. Diese Wut kann sie wahrnehmen, ernst nehmen, spüren. Und sie kann sie steuern, eben weil sie sie spürt. Sie kann sich selbst beruhigen, sich gut zureden oder mit anderen über ihre Wut sprechen.
Mütter jedoch, die diese Wut sofort verdrängen, weil sie ja nicht sein darf, haben ein Problem. Wohin mit der Aggression? Diese Aggression wird nicht selten in „Fürsorge“ umgewandelt. Das Kind wird übermäßig gepflegt und medizinisch versorgt. Wenn die Mutter mit verdrängter Aggression dann ein Rezept für eine Vojta-Therapie erhält, passiert psychisch so etwas: Die Mutter kann nach außen zeigen, dass sie dem Kind etwas Gutes will. Sie „therapiert“ ja das Kind, sie nimmt Schwieriges auf sich, um dem Kind zu helfen. Doch das schreiende Kind ist wie ein Ventil für ihre eigenen aufgestauten Aggressionen. Wer kennt das nicht: Wenn wir wütend sind und es uns gelingt, den anderen selbst wütend zu machen, dann sind wir möglicherweise erstmal erleichtert. Bleibt der andere, auf den wir wütend sind, ruhig und gelassen, kann uns das unter gewissen Umständen rasend machen.
Die Mutter ist geschützt – sie hat ein Rezept, den Rat eines Kinderarztes, sie will helfen. Die Therapie ist dann wie ein Deckmäntelchen, unter dem die eigenen Aggressionen versteckt und dennoch ausgelebt werden können. Diese Vorgänge sind den meisten betroffenen Müttern in keiner Weise bewusst. Und natürlich kann auch der ein oder andere Arzt oder Therapeut seine Aggressionen so „ausleben“.
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- Stellungnahme der Internationalen Vojta-Gesellschaft zu meiner Beitragsreihe (7)
Dieser Beitrag erschien erstmals am 3.4.2011
Aktualisiert am 6.9.2014
Julia No meint
Mich würde interessieren, ob man das Ganze überhaupt irgendwie wie gut machen kann.
Mir fallen ebenso Dinge bei unserem Sohn auf, die gut die Folge der Vojta Therapie sein könnten. Ist Hypnose da die einzige Möglichkeit?
Karin Müller meint
Ich bin froh, diese Seite gefunden zu haben, als Bestätigung, für das, was ich seit vielen Jahren schon vermute, nämlich, dass unsere 22-jährige Tochter gewisse Verhaltensweisen und Reaktionen entwickelt hat, die auf die Vojta- Therapie im Säuglingsalter zurückzuführen sind.
Ich habe die Therapie (wegen Schiefhals) viel zu spät abgebrochen, leider. Im Kleinkindalter hatten wir dann erhebliche Machtkämpfe und eine Erziehungsberaterin sagte mir dann, dass es gut sein könne, dass meine Tochter das Gefühl der Unterlegenheit als extrem schmerzlich empfinden würde.
Später ist mir dann aufgefallen, dass sie zu ihren eigenen Gefühlen nicht den richtigen Zugang entwickeln konnte und extrem kontrolliert war.
Mittlerweile werden bei ihr Hypnosesitzungen durchgeführt, und darunter konnte festgestellt werden, dass sie extreme Probleme mit vermeintlicher Übergriffigkeit durch andere Personen (gerade auch von meiner Seite als Mutter) hat und sich nicht gut abgrenzen kann. Sie reagiert dann entweder hilflos oder in der Familie auch agressiv.
Wir sind ansonsten eine normale Familie ohne große Probleme und unser Sohn zeigt diese Verhaltensweisen nicht.
Ich bin überzeugt, dass diese Therapie einer Misshandlung gleichkommt und dann auch entsprechende Probleme auftreten können. Und damals stand ich als Mutter hilflos daneben. Später haben wir dann mit Bobath weigergemacht.
Die Therapeutin kann sich einen Zusammenhang dieser Probleme mit der traumatischen Vojta-Therapie gut erklären und hofft, das Reaktionsmuster irgendwann auflösen zu können, das meiner Tochter ja nicht bewußt ist.