Bevor ich mein Buch „Psychoanalyse tut gut“ (Psychosozial-Verlag) geschrieben habe, kannte ich Wolfgang Wiedemanns Buch „Wird nur über Sex geredet?“ wirklich nicht. Es ist mir erst vor wenigen Monaten in die Hände gefallen. Und ich bin überrascht, wieviele Parallelen es gibt. Der Psychoanalytiker und Theologe Wolfgang Wiedemann stellt „27 neugierige Fragen an die Psychoanalyse“. Wahrscheinlich sind die Vorurteile über die Psychoanalyse so weit verbreitet, dass sich dem Autor leicht eine Landkarte für mögliche Themen abzeichnet. Jedenfalls: Wolfgang Wiedemanns Buch ist bereits 2002 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen. Die Psychoanalyse wird hier verständlich, ehrlich und humorvoll beschrieben.
Kleine Fallgeschichten machen das Buch interessant
Wolfgang Wiedemann beantwortet „27 neugierige Fragen an die Psychoanalyse“ – er ist selbst Psychoanalytiker und erklärt die Methode daher anhand zahlreicher kleiner Fallgeschichten. Dabei schreibt er ehrlich, was ihm als Psychoanalytiker durch den Kopf geht, wo er gelegentlich selbst Zweifel an der Methode hat und welche Möglichkeiten die Psychoanalyse vielen Menschen eröffnet. Wolfgang Wiedemann bezieht sich hauptsächlich auf die klassische Psychoanalyse, bei welcher der „Patient“ (= Analysand) in der Regel mindestens 3-mal pro Woche auf der Couch liegt. Die psychoanalytische Therapie im Sitzen wird nur kurz erläutert. Da jeder Psychoanalytiker selbst eine Lehranalyse macht, kennt Wolfgang Wiedemann also auch die „Patientenseite“ und er beschreibt erfrischend offen, wie er sich manchmal als Analysand fühlte.
Die „gute Wirkung“ kommt etwas zu kurz
Wolfgang Wiedemann hält sich doch eher zurück, wenn er von den Wirkungen der Psychoanalyse spricht. Er konzentriert sich auf die persönliche Weiterentwicklung. Menschen, die psychisch leiden und dieses Buch lesen, weil sie vielleicht eine Psychoanalyse machen wollen, werden hier möglicherweise enttäuscht sein. Sicher zeichnet sich die Psychoanalyse dadurch aus, dass sie keine „Heilsversprechen“ macht und wie jede Methode kann auch sie manchem Patienten möglicherweise mehr Nach- als Vorteile bringen. Dennoch hätte ich mir an einigen Stellen ein stärkeres Plädoyer für die Psychoanalyse gewünscht – es hätte deutlicher werden können, dass man die Psychoanalyse durchaus auch einfach zum „Gesundwerden“ nutzen kann und dass sie häufig sehr hilfreich bei Angststörungen, Depressionen und anderen Störungen ist.
Manchmal kommt das Buch etwas „zu leicht“ daher. Auf S. 47 schreibt Wolfgang Wiedemann zum Beispiel:
„Es gab und gibt ja die Idee (eine säkulare Version der kirchlichen Prädestinationslehre): Weil ich als Kind so oder so behandelt wurde, bin ich so und so geworden und werde so und so bleiben. Natürlich stimmt das so nicht. Aber das Argument ist trotzdem praktisch: Immer sind die Eltern schuld, entweder der böse Vater oder „nicht gut genuge“ Mutter. Es ist eine bequeme Ausrede, nicht erwachsen werden zu müssen.“
Hier fühlt sich vielleicht so mancher Leser im Regen stehengelassen. Denn natürlich können schwere Kindheiten furchtbare Schmerzen bereiten und die Betroffenen auf ihren Lebenswegen unglaublich ausbremsen. Der Groll, die Trauer darüber und die Einsamkeit halten bei vielen bis weit in das Erwachsenenalter an. Manche Menschen wurden so stark geschädigt, dass sie an vielen Stellen auch nicht so einfach Eigen-Verantwortung übernehmen können (= „erwachsen“ werden können), denn auch diese Fähigkeit muss erst psychisch entwickelt werden. An Stellen wie diesen wird der Autor wahrscheinlich vielen Lesern nicht gerecht.
Der Analytiker wird gerne auch gehasst
Wolfgang Wiedemann gelingt es allerdings sehr gut, ein Bild über den Beruf des Psychoanalytikers selbst abzugeben. Der Analytiker werde dafür bezahlt, dass er sich hassen lasse, erklärt Wiedemann. Der Leser bekommt eine Ahnung davon, wie anstrengend der Beruf des zuhörenden Analytikers sein kann. Er beschreibt, wie der Anfang der Psychoanalyse oft aussieht: Der Patient verspürt Erleichterung; er hält den Analytiker für klug und ideal. Doch dann kommt die Zeit, in der Beziehungsprobleme auftauchen – es sind eben die Beziehungsprobleme, die der Patient kennt, die ihm immer wieder Schwierigkeiten bereiten und die er in die Analyse „mitbringt“. Hier schreibt Wolfgang Wiedemann sehr treffend:
„Viele Kurzzeittherapien erfreuen sich allein deshalb großer Erfolge, weil sie rechtzeitig vor Ende des Honeymoon die therapeutische Ehe wieder lösen.“ (S. 115).
Fazit: Wer sich ein Bild über die Psychoanalyse verschaffen möchte, der findet in diesem Buch viele hilfreiche Beschreibungen. Viele Abläufe werden ausführlich dargestellt. Allerdings wird es möglicherweise den Lesern, denen es gerade sehr schlecht geht, stellenweise nicht gerecht. Dazu müsste das Buch etwas „hoffnungserweckender“ und an einigen Stellen einfühlsamer geschrieben sein. Es richtet sich wohl eher an Patienten mit einem „höheren Strukturniveau„.
Wolfgang Wiedemann:
Wird nur über Sex geredet?
27 neugierige Fragen an die Psychoanalyse.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002
Bei amazon kaufen.
Verwandte Artikel in diesem Blog:
Schreibe einen Kommentar