Wenn Glück depressiv macht
Die „Melancholie der Erfüllung“ kennen vielleicht viele von uns – wir schaffen die Prüfung und sind endlich in dem Beruf, den wir uns gewünscht haben. Doch die erwartete Freude bleibt aus. Da ist man endlich genesen von einer langwierigen Krankheit oder man hat endlich die große Liebe gefunden. Und doch fühlt man sich vielleicht seltsam schwer, gedrückt, unglücklich, einsam und gequält. Wenn Glück depressiv macht, kann das viele verschiedene Ursachen haben, die oft weit in die Kindheit, ja vielleicht sogar bis in die Babyzeit oder vorgeburtliche Zeit zurückreichen.
Welche Erfahrungen haben wir mit Entwicklung und Beziehung gemacht? Haben wir es zu Beginn unseres Lebens selbst auf die Welt geschafft oder überlebten wir nur, weil uns ein Chirurg aus dem Bauch der Mutter holte? Kamen wir in die Arme einer Mutter, der es insgesamt recht gut ging? Oder hatten wir eine schwer depressive Mutter? Erhielten wir vielleicht die Vojta-Therapie oder andere medizinische Eingriffe als Kind? Wurden wir mit Gewalt, Strenge, Alkoholismus der Eltern oder Vernachlässigung groß?
Wenn’s außen ruhig wird, wird der innere Krieg laut
Wenn wir ein Ziel erreichen, dann wird die Welt draußen ruhig. Wir haben keine Gegner mehr, das Böse außen (z.B. der Lehrer oder Vater, der uns nicht weiterkommen ließ) ist verschwunden, aber auch der Sinn ist weg – die Entwicklung ist geschafft, der Kampf zu Ende. Was nun? Wenn es außen ruhig wird, wenn außen alles gut ist, dann wird unsere Innenwelt wieder lauter. Unser innerer Tumult meldet sich zurück und auch unser strenges Überich, das ja oft aus Angst geformt ist, wird wieder stark.
Vielleicht hast du auch schon mal erlebt, dass du depressiv wurdest, obwohl du gerade frisch verliebt warst. Wie lässt sich das verstehen? Unser Glück hängt eng mit unseren Beziehungen zusammen – und die wichtigste Frage scheint oft zu sein: Kann ich „trotz“ einer Beziehung zu mir selbst finden? Es ist manchmal schwer vorstellbar, dass wir gerade „durch“ eine Beziehung zu uns selbst finden können. Eine der wichtigsten Erfahrungen, die wir als Kind mit der Mutter machen konnten, ist das gute Alleinsein im Beisein der Mutter (siehe Donald Winnicott). Wenn wir ganz bei uns selbst sein können in Anwesenheit eines anderen, dann können Wohlbefinden, Geborgenheit, Freiheitsgefühle und ein tiefer innerer Frieden auftauchen.
Was so einfach klingt, ist oft nicht so leicht. Manchmal geben wir uns völlig auf, um anderen zu gefallen. Das kann depressiv machen. Wichtig ist vielleicht, dass sich eine Vorstellung davon entwickelt, dass es so etwas gibt: Wohlbefinden in sich selbst im Beisein eines anderen. Ein Bei-Sich-Sein-Können, „obwohl“ der andere daneben ist oder gerade „weil“ der andere da ist, ist eine Fähigkeit, die wir manchmal erst wieder – oder ganz neu – erlernen müssen. Besonders nach einer schwierigen Kindheit kann dies ein lebenslanger Weg sein, den du immer wieder neu suchst. Manchmal findest du zu dir und fühlst dich wohl und dann geht es wieder verloren. Es gibt einen ständigen Wechsel. Manchmal hilft längeres Warten und ein bewusstes „In-sich-Gehen“, wenn uns das Glück auch Gefühle von Druck, Sinnlosigkeit oder Zwang beschert.
„Als Solon weggegangen war, da kam von seiten der Gottheit über Kroisos schwere Strafe, vermutlich, weil er glaubte, er sei von allen Menschen der Glücklichste.“ Träume der Mächtigen; Schicksal und Todesverhängnis: König Kroisos und sein Sohn Atys. 12: Herodot 34 (1). In: Träume in der Antike. reclam 2006: S. 63
Verwandte Artikel in diesem Blog:
- Depression als Ausdruck früher Körpergefühle
- Schuldgefühle – wie fühlen sie sich an?
- Wenn ich etwas Gutes bekomme, verachte ich den anderen dafür
- Wohlgefühl als Angstabwehr: „Es ist wie eine innere Droge“
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 10.5.2021
Aktualiseirt am 7.8.2025