Übertragung funktioniert nicht nur automatisch
Wenn wir einen cholerischen, kontrollierenden Vater hatten, dann kann es sein, dass wir immer dann besonders zornig werden, wenn wir uns irgendwo unterordnen sollen – zorniger vielleicht, als andere Menschen. Wenn wir eine Psychotherapie beginnen, begegnen wir vielleicht auch dem Therpeuten mit grosser Skepsis und Widerwillen. Wir „unterwerfen“ uns ihm, denn er soll uns retten und weiss, wo’s lang geht, so meinen wir. Das nennt man Übertragung: So, wie wir den Vater sahen, so sehen wir teilweise auch andere Menschen, die in einer Vater-Position sind, die also „über uns“ stehen. Zunächst sind Übertragungen nicht bewusst. Wir machen das einfach so. In einer Analytischen Psychotherapie werden wir uns jedoch mehr und mehr klar darüber, was da passiert und was wir psychisch da „machen“.
Trotz unserer Erkenntnisse empfinden wir die Situationen mit dem Vorgesetzten vielleicht jedoch weiterhin so, als wäre uns nie etwas bewusst geworden. Wir merken nur: Das Leben ist unangenehm.
Irgendwann bemerken wir vielleicht, wie wir über unseren Vorgesetzten oder unseren Analytiker quasi aus Versehen „ganz normal“ denken. Wir empfinden ihn als ganz natürlich. Und dann geschieht irgendetwas in uns oder um uns herum und wir empfinden den anderen wieder als schlecht und bedrohlich. Wir stellen uns vor, womit er uns heute wieder gängeln will. Wir kommen uns ausgenutzt oder benachteiligt vor. Wir sehen uns einem Angriff ausgesetzt – doch ist es so?
Wenn wir diese Stelle des „Umschlags“ mitbekommen, merken wir, wie wir im Geiste da etwas „gemacht“ haben – immer unter der Berücksichtigung, dass natürlich auch der andere ein sich veränderndes Lebewesen ist. Wir können qber vielleicht beobachten: Die Übertragung, die früher wie automatisch stattfand, wird von uns teilweise so gemacht!
Die Übertragung ist sozusagen ein Angriff auf das Natürliche.
Manchmal bestehen wir regelrecht darauf, dass die Umwelt so ist und bleibt, wie wir sie erwarten. Manchmal „machen“ wir die Umwelt regelrecht so, wie wir sie von früher her kennen, z.B. indem wir andere provozieren.
Wenn wir darauf verzichten, die anderen Menschen innerlich einzufärben oder zu verdrehen, kann das sehr verunsichernd sein, denn wir sehen uns einer neuen Situation ausgesetzt. Wir haben uns verändert, der andere aber auch – und was jetzt? Diese Unsicherheit auszuhalten, ist oft mühevoll. Es ist wie Waten durch ein Moor, aber irgendwann bemerken wir vielleicht, wie das Drama abnimmt und wir zu einem ruhigeren Umgang mit anderen Menschen finden.
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Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 23.2.2020
Aktualisiert am 10.9.2024