Severely deficient autobiographical memory (SDAM): „Ich kann mich kaum an die Kindheit erinnern.“
Manchen fällt es so richtig erst in einer Psychotherapie auf: Wenn sie nach der Kindheit gefragt werden, haben sie kaum Erinnerungen. Während sich viele etwa ab dem vierten Lebensjahr zumindest an prägende Ereignisse aus der Kindheit erinnern, scheint bei manchen die Kindheit völlig aus dem Gedächtnis gestrichen zu sein. Die Erfahrung in der Psychoanalyse zeigt, dass in diesen Fällen häufig schwer traumatisierende Ereignisse vorlagen. Zum Beispiel ist Erinnerung schwierig, wenn man als Kind kaum Gelegenheit hatte, zu erzählen, denn durch Erzählungen festigt sich auch die Erinnerung. Im Laufe einer Psychoanalyse kehren häufig Erinnerungen zurück und die Analysanden sagen: „Ich hätte nie gedacht, dass ich mich daran noch erinnere!“
Neben den psychologischen Erklärungen finden sich heute auch passende neurologische Erklärungen. Wenn man sich nicht an die Kindheit erinnern kann, spricht man vom Severely deficient autobiographical memory (SDAM) = mangelhaftes autobiografisches Gedächtnis.
Viele Eltern merken, dass sich ihr zweijähriges Kind an erstaunlich vieles erinnern kann – z.B. an Wege, Menschen oder Situationen. Doch dann scheint das bis dahin Erinnerte mit drei oder vier Jahren plötzlich völlig verschwunden zu sein. Wieso diese „kindliche Amnesie“ in den ersten drei Lebensjahren besteht, ist immer noch umstritten. Manche Menschen sagen, sie erinnerten sich auch an Ereignisse aus dem zweiten oder dritten Lebensjahr. Forschungen geben Hinweise darauf, dass der Hippocampus erst ausgereift sein muss, bevor sich Erinnerungen festigen müssen. Diese Hirnstruktur sei eben erst ab dem dritten/vierten Lebensjahr so ausgereift, dass Erinnerungen haften bleiben.
Auch wird diskutiert, dass zur Erinnerung Sprache nötig ist. Erst, wenn ein Kind richtig sprechen und auch „Ich“ sagen kann, kann es sich dauerhaft an die Kindheit erinnern, so die Beobachtung.
Häufig wird erklärt, dass gerade Kindheitserinnerungen nicht besonders zuverlässig sind. Oftmals zeigt sich aber, dass die Erinnerung doch zuverlässiger ist als gedacht – allerdings können sich oft die Emotionen, die mit der Erinnerung verbunden sind, über die Lebensjahre sehr verändern.
Wie Wissen, Erinnerung, Erzählen und Verdrängen zusammenhängen können, zeigt vielleicht dieses Zitat: „In einem Interview 2005 erwidert Koselleck auf die Frage, was er von der Ermordung der Juden gewusst habe: ‚Das ist eine wichtige Frage. Als ich im Sommer 1941 an die Front kam, als Ersatz nach der Schlacht von Kiew, habe ich dort gehört, dass hinter uns 10.000 Juden in den Steinbrüchen ermordet worden seien. Das habe ich damals als eindeutige Wahrheit gehört, und ich kann mich nicht erinnern, dass wir darüber diskutiert hätten. Das wusste ich also theoretisch. Aber (vier Jahre später als Kriegsgefangener) in Auschwitz habe ich nicht daran gedacht, und zwar sicher aus Selbstschutz, aus Angst: wenn ich das erzählen würde, wäre ich in die Mühlen der GPU geraten.'“ Christian Esch, „Ich war weder Opfer noch befreit. Der Historiker Reinhart Koselleck über die Erinnerung an den Krieg, sein Ende und seine Toten. In: Berliner Zeitung, 7.5.2005 und: Stefan-Ludwig Hoffmann: Der Riss in der Zeit. Kosellecks ungeschriebene Historik. Suhrkamp, 2023: S. 34.
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Linktipps:
Gudrun Horstkotte (1982):
Entwurf einer psychoanalytischen Gedächtnistheorie
Zeitschrift für psychosomatische Medizin, 28, 1982: 219-230
https://www.jstor.org/stable/23996258
Daniel Konermann:
Depression und autobiografisches Gedächtnis
https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/zpm/psychatrie/backenstrass/autobio_gedaechtnis_141204.pdf
Nicholas W. Watkins (2018):
(A)phantasia and severely deficient autobiographical memory: Scientific and personal perspectives
Cortex, Volume 105, August 2018, Pages 41-52
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0010945217303568
Joel L. Voss et al. (2017):
A Closer Look at the Hippocampus and Memory.
Trends in Cognitive Sciences, Volume 21, Issue 8, August 2017, Pages 577-588
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1364661317301092