Über die Angst, vom Bösen besessen zu sein

Sie sei überzeugt davon gewesen, dass das Böse die Macht über sie übernommen hätte („The Devil had taken me over“), erzählt die ehemals schizophrene Patientin Catherine Penney in dem Film „Take these broken wings“ (Youtube). Die Angst, von bösen Mächten besessen zu sein, tritt unter anderem bei schweren Angststörungen bzw. sogenannten Psychosen auf. Manche haben das Gefühl, dass es da so etwas wie einen bösen Aether um sie herum gibt, den nur sie selbst empfinden können. Es besteht die Vorstellung, dass kein anderer Mensch dieses Böse wahrnehmen kann, dass der andere einen zwangsläufig missverstehen muss und dass er daher nicht helfen kann und man vollkommen verloren ist.

Manche haben die Vorstellung oder das Gefühl, Empfänger einer „bösen Fernwirkung“ zu sein. Es ist, als sitze z.B. die böse Mutter in der Ferne, die durch aussendende Gedanken und Wünsche bewirke, dass man in einen unangenehm schwebenden, panikartigen Zustand versetzt wird. „Irgendwie“ scheint Unheil zu geschehen. Manche haben das Gefühl, sie lösten sich aus. Als ob es keine Grenze, keine feste Struktur mehr gebe.

Muslimische Patienten

Manche muslimische Patienten kommen mit dieser Angst, besessen zu sein, in die Sprechstunde und erzählen, dass ein Dschinn in ihnen sei, also eine böse, teufelsartige Macht. Die Betroffenen seien schon beim Exorzisten gewesen, jedoch habe ihnen das keine dauerhafte Erleichterung gebracht.

Auf der Website isalamiq.de heißt es: „Ein Rechtsgelehrter aus Saudi-Arabien erklärte auf einer Fachtagung, dass Dschinn, Zauberei und Ähnliches zu der verborgenen Welt gehören, die unseren Sinnen verborgen bleibt und nicht nur (?) durch moderne Wissenschaft oder die Naturwissenschaft bewiesen werden kann.“ („Vom Dschinn besessen – Mythos oder Wahrheit?“ Eine Kolumne von Dr. med. Ibrahim Rischoff, 8.1.2023) Ein interessanter Film hierzu findet sich auf Youtube: Stephan investigates Islamic Exorcism.

Auf bibelwissenschaft.de findet sich eine interessante Einteilung verschiedener Arten der Besessenheit. Der Religionswissenschaftler Traugott Konstantin Oesterreich (1880-1949) unterschied die Besessenheit, bei der das Bewusstsein ausgeschaltet ist (somnambule = schlafwandlerische Besessenheit) und eine Besessenheit, bei der das Bewusstsein erhalten bleibt (luzide Besessenheit).

Was tun?

Viele, die manchmal unter dem angstvollen Gefühl leiden, besessen zu sein, beschreiben sich selbst als „dünnwandig“. Sie haben das Gefühl, keine schützende Haut und nur ein „schwaches Ich“ zu haben. Also ist da zum Einen gefühlt die fehlende Schutzhülle und zum Anderen der fehlende innere Widerstand, die gefühlt fehlende innere Kraft. Es besteht die Horrorvorstellung, dass die anderen keine Ahnung davon haben, was mit einem selbst geschieht.

Außenstehende können helfen, indem sie den Betroffenen ernst nehmen und über das Nicht-Wissen nachdenken. Sie können die gefühlten „bösen Mächte“ nicht sehen, aber sie können sehen, dass der Betroffene in seiner Angst irgendwie „verfolgt“ aussieht. Wissenschaftliche Erklärungen wie „so was gibt es gar nicht“ helfen nicht weiter, denn in dem Moment der Angst fühlt es sich für den Betroffenen so an, als käme etwas über ihn. Diese Gefühle ernstzunehmen und einfach dabei zu bleiben, hilft vielen sehr. Sie brauchen die Rückversicherung, dass wenigstens die real äußeren Menschen sie nun nicht auch noch bedrängen – und sei es nur mit Hilfsangeboten. Nicht selten werden die Betroffenen auch unbewusst von innen durch ihre eigenen Kräfte wie Wut und Aggressionen bedrängt. Es ist das Gefühl des Verlustes von „Grip“.

Denken, Denken, Denken – das hilft oft bei „übernatürlichen“ Erfahrungen, erklärt die Psychoanalytikerin Marsha Aileen in ihrem Video „Unconscious Communication, Psychoanalysis and Religion“. Auch der Physiker und Psychologe Walter von Lucadou (Freiburger Institut für Parapsychologie) rät, bei Unerklärlichem das Erlebte so detailliert wie möglich zu beschreiben und aufzuschreiben. Dadurch kommt das Erlebenis von wieder mehr „Grip“ zurück.

Manche können sich durch Tiere beruhigen, zum Beispiel durch den Griff in das weiche Fell eines Hundes. „Feinstoffliches“ kann helfen wie ein guter Duft, aber auch Grobes wie z.B. die Arbeit in einer Schmiede oder einer Schreinerei. Auch Vorstellungen hierzu können manchmal helfen (Film über den Schellenschmied Peter Preisig: 3SAT: Bräuche, Käuze, Aberglauben, Teil 1).

Auch kann die Vorstellung eines „Dritten“ entlasten. Häufig kommen die Ängste vor Besessenheit im Alleinsein oder im Zuzweitsein. Wenn es jedoch etwas außerhalb gibt, z.B. einen Dritten, der versteht, kann das ein Gefühl von „Boden“ vermitteln.

Frei schwebend, ohne gute Bindungen

Viele, die unter dieser Angst leiden, klagen, dass sie noch nie gute familiäre Bindungen hatten oder dass ihnen enge Bindungen große Angst machen. Oft liegt hier eine Ansammlung von frühen schrecklichen Beziehungserfahrungen zugrunde: Was, wenn derjenige, der helfen soll, sich selbst als gefährlich entpuppt?

Viele Betroffene waren psychisch sehr quälenden Angriffen ausgesetzt, noch bevor sie sprechen konnten. Die Angst, besessen zu sein, tritt interessanterweise jedoch meistens erst nach der Pubertät auf, sodass möglicherweise auch Sexualität und sexuelle Erregung eine Rolle dabei spielen. Es ist, als würde die Psyche den frühen „Schaden“ mit sich ziehen, sodass die angegriffene Seele in der Pubertät nur mit vielen Hindernissen reifen kann.

Es ist vorstellbar, dass die Angst, „besessen“ zu sein, schon in den ersten Lebensmonaten ihre Wurzeln hat. Das „Averbale“ spielt hier eine Rolle. Interessant dabei ist, dass „böse Mächte“ wie z.B. ein Verfolger beim „Stimmenhören“ oder im Alptraum selbst stumm (averbal) sind und auch auf irgendeine Weise „dumm“. Es lässt sich nicht mit ihm reden und auch nicht mit ihm verhandeln. Er ist nicht zu packen. Er ist wie eine Vorstellung, also ohne Festigkeit. Die abwesende Mutter, der abwesende Vater können möglicherweise die Ursache dafür sein. Es ist wie bei der Abwesenheit von Nahrung: Der Hunger in einem wächst und wird zum „beißenden Hunger“. Im Hunger ist man angreifbarer als im gesättigten Zustand. Dieser Mechanismus kann übrigens auch eine Rolle bei der Adipositas-Behandlung spielen. Manche sehr übergewichtige Menschen erleben eine psychotische Phase, wenn sie zu rasch abnehmen.

Die Säuglingsforscherin Beatrice Beebe zeigt in ihrem Film „Decoding the nonverbal Language of Babies“ (Youtube, Minute 32), wie eine psychisch traumatisierte Mutter mit ihrem Kind kommuniziert. Das „Mismatch“, diese „Nicht-Passung“ ist schon beim Anschauen nur schwer zu ertragen. An einer Stelle erstarrt das Kind vor Angst, weil seine Mutter so furchterregend unpassend mit Lachen auf seine Not reagiert.

Durch die furchterregende Kommunikation mit der Mutter, entsteht im Kind möglicherweise das Gefühl, dass innerlich und äußerlich etwas einstürzt und dass da nichts da ist, worauf es sich verlassen kann.

Auch Babys, die zu früh zu viel allein gelassen wurden (vielleicht sogar nachts im Dunkeln), entwickeln möglicherweise das Gefühl, dass das Abwesende (also die Abwesenheit der guten Mutter) so etwas ist wie ein Böses Äußeres um sie selbst herum. Interessant ist auch die Frage, wo die Betroffenen das Böse in der Umwelt verorten – oft kommt es eher von hinten oder seitlich-hinten, seltener von vorne oder von überall her. Das lässt möglicherweise auf frühere Erfahrungen schließen, also auf die Erfahrung, dass Böses von hinten kommt.

Häufig sind vorzugsweise Kopf, Brust, Bauch und Arme von dem Gefühl betroffen, von bösen Mächten eingenommen zu sein, während die Beine noch zum Fliehen fähig sind.

Es kann möglicherweise sogar die Körperhaltung eine Rolle spielen, in der die Erfahrung der Abwesenheit gemacht wurde: Lag man als Kind überwiegend auf dem Bauch im Bettchen oder auf der Seite oder auf dem Rücken? Untersuchungen zu Einschlafphänomenen hierzu können möglicherweise ein Bindeglied zwischen den vielen Fragen liefern (Wolfgang Leuschner: Einschlafen und Traumbildung, Brandes&Apsel, 2011, Sigmund-Freud-Buchhandlung).

Auch Übergriffe körperliche Erfahrungen wie sexueller Missbrauch oder medizinische Eingriffe wie Operationen oder die Vojta-Therapie können zu dem frühen Gefühl des Überwältigtseins geführt haben, wobei die Körperhaltung mit dem Erlebnis verbunden ist. Schon durchdringende Blicke können bei kleinen Kindern ausreichen, um schreckliche Angst auszulösen. Die Psyche war im Kleinkindalter noch nicht reif und hatte dem Gewaltigen noch nichts entgegenzusetzen. Solche Bereiche der Psyche bestehen ein Leben lang fort.

Religiöse Fragen tun sich auf

Wer unter der Angst leidet, von etwas eingenommen zu werden, der beschäftigt sich häufig auch mit der Religion – und umgekehrt: Nicht wenige Menschen mit dieser Angst kommen aus strengen Glaubensgemeinschaften. Für viele kann es zunächst eine Lösung sein, davon Abstand zu nehmen. Mit der Zeit, wenn mehr Festigkeit gewonnen ist, kann man sich vielleicht neu dem Spirituellen zuwenden.

Im Vaterunser heißt es: „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Manchmal sind Versuchung und das Böse fast dasselbe. Bewusst von schädigenden Impulsen abzulassen, kostet oft sehr viel Kraft.

Wenn wir spüren, dass es auch etwas Lustvolles hat, uns in die Wut und in das Opfersein zu begeben und es auszuleben, dann merken wir, dass der Verzicht darauf wirklich Arbeit sein kann. Doch Arbeit ist etwas, das uns Halt gibt, das uns das „Grip-Gefühl“ zurückgibt.

Manche Betroffenen, die sehr religiös aufwuchsen oder missbraucht wurden, haben schon bei „normaler Sexualität“ das Gefühl, sie täten etwas Böses, das bestraft werden müsste. Sie haben dann das Gefühl, sich nicht mehr helfen zu können – manche beginnen dann, innerlich zu bitten, von dem Bösen erlöst zu werden.

Mangel an Festigkeit

Viele Betroffenen fühlen sich in dem Moment der Angst vor dem Ergriffensein durch das Böse als sehr hilflos. Sie suchen die körperliche Nähe eines anderen Menschen und hoffen, dass er ihnen wieder ein neues Gefühl geben kann.

Hier wird möglicherweise gut erkennbar, dass es den Betroffenen an einem inneren Gefühl mangelt, dass da in ihnen etwas Festes ist, das nicht so leicht durchdrungen werden kann.

Der Mangel an guter Bindung, die nötig gewesen wäre, um ein festes Ich aufzubauen, wird hier spürbar. Viele Betroffene stehen zudem nicht ausreichend „in der Welt“ – sie haben kaum Kontakte oder sind vielleicht gerade arbeitslos.

Wut vertreibt das Böse

Oft stellen die Betroffenen fest, dass sie das Gefühl der Besessenheits-Angst nicht mehr haben, wenn sie wirklich wütend, neidisch oder eifersüchtig sind. In dem wunderbaren Film „Sörensen hat Angst“ von und mit Bjarne Mädel, wird gezeigt, wie Sörensen einen engen Gang voller Angst entlang geht. Die Wände scheinen sich aufeinander zu zu bewegen, sodass der Gang immer enger wird. In einer zweiten Szene kommt Sörensen wieder dorthin, doch diesmal ist er voller Wut. Nun ist der Gang ganz frei für ihn.

Gute Beziehungen können helfen, die Angst vor dem „Überkommenwerden“ zu überwinden. Viele befürchten, sie könnten sich von den bodenlosen Gefühlen anderer „anstecken“ lassen. Bei sehr großer Angst kann eine Psychoanalyse helfen, allerdings braucht es sehr viel Geduld. Es geht zunächst darum, seine Ich-Stärke zu entwickeln. Je besser man sich selbst kennenlernt und beobachten kann, desto stärker lässt sich „das Eigene“ fühlen. Wichtig ist es dabei, die Erfahrung machen zu können, dass einem selbst der Raum und die Ruhe gelassen wird, die man braucht.

In einer Psychoanalyse kann diese Erfahrung von Beziehung mit respektvollem Abstand gut gemacht werden. Es ist vielleicht manchmal, als nähme man von dem bedeutungsvollen Anderen (ursprünglich von Mutter und Vater, später vielleicht vom Partner oder Analytiker) eine Art „Seelen-Teilchen“ auf. Mit der Zeit genügt auch das Denken an den anderen, um sich zu beruhigen, ohne dass er körperlich anwesend sein muss. Betroffene müssen sich darauf einstellen, dass die Entwicklung hin zu mehr innerer Festigkeit und zu einer sichereren Hülle lange dauern kann.

Das vegetative Nervensystem zu beruhigen, z.B. durch Meditation, kann dabei helfen, denn das aufgeregte vegetative System vermittelt auch ein Gefühl von „Dünnwandigkeit“ – beispielsweise verändert sich die Leitfähigkeit der Haut bei Angst. Was Ursache und was Wirkung ist, ist dabei nicht immer klar. Haltgebend kann das Wissen sein, dass das Gefühl des „Besessenseins/Überkommenseins“ meistens nur einige Augenblicke anhält und dann wieder vergeht.

Ein zweiter wichtiger Ast, der zu mehr Sicherheit führt, ist die Bewegung. Yoga kann ein sehr gutes Instrument sein, um sich zu stärken. Im Yoga geht es um das Feinstoffliche und das Grobstoffliche. Als Basis braucht man das Grobstoffliche – es ist wichtig, erst einmal eine innere Substanz zu entwickeln. Dazu gehören z.B. schon ausreichend Schlaf und eine gute Ernährung, denn Essen hält Leib und Seele zusammen.

Dieses Gefühl, eine innere Substanz zu entwickeln und schließlich zu haben, ist mit das Wertvollste, das ein Mensch haben kann. Ich denke, dieses Gefühl entsteht über den emotional ehrlichen Kontakt mit einem anderen Menschen, über die Wahrheitssuche, die Ausrichtung auf eine sinnvolle Arbeit und über Bewegungen, die man täglich übt, wie z.B. beim Yoga oder einer anderen meditativen Bewegungsform.

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Literaturtipp:

Tina Lintner:
Besessenheit. Ein Diskursfeld der Gegenwart zwischen
Dämonenglauben und Psychiatrie/Psychotherapie

Masterarbeit, Universität Wien, 2020 (PDF)

Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 20.6.2023

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