Scham und Blick

Wer sich schämt, der traut sich kaum, die Augen aufzuhalten. „Ich wahre mein Gesicht, indem ich es nicht zeige“, zitiert die Kinderpsychoanalytikerin Marita Barthel-Rösing einen Patienten (psychologie-aktuell.com). Wer sich viel mit dem Blick beschäftigte, war der Philosoph Paul Sartre (siehe: Nina Strehle: Der Blick und das Schamgefühl in Paul Sartres Werk „Das Sein und das Nichts“, grin-Verlag, 2002). Der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim (1903-1990, Wikipedia) beschreibt in seinem Buch „Die Geburt des Selbst“ (The empty fortress, Fischer-Verlag, 1984, zvab), wie Gefangene eines KZ zu einem verschämten Blick gelangten.

Bettelheim vergleicht den Blick der Gefangenen mit dem Blick mancher autistischer oder schizophrener Menschen. Doch gerade auch bei der Partnersuche und bei Dates kann man diesen Blick beobachten oder auch an sich selbst feststellen. Und in der Pubertät tun wir alles dafür, damit unser Blick nicht versehentlich auf dem Geschlechtsteil des anderen landet, obwohl wir so dringend dort hinschauen möchten.

Verbote machen es schlimmer

„Ich habe so Sorge, aus Versehen auf die Glied-Region des Mannes zu schauen“, sagt eine Patientin. Ein Mann sagt: „Ich schaue wie zwanghaft auf die Brüste der Frau, dabei will ich das gar nicht.“ Unsere Blicke gehen wie automatisch über den Körper des anderen. Wenn wir aber feststellen, dass unser Blick auf den Intimregionen hängen bleibt, kommt oft große Scham auf. Dann versuchen wir, das zu verhindern.

Und dann wird es erst richtig kompliziert. Wir wirken dann wie jemand, der gucken möchte, aber nicht gucken darf – und bekommen dadurch den berühmten unattraktiven Blick, den wir als Jugendliche in der Tanzschule oft erleben konnten. Leichter wird es, wenn wir wissen, dass wir unwillkürlich „dorthin“ schauen und wenn wir uns das innerlich auch erlauben oder uns zumindest nicht strafen dafür.

Bruno Bettelheim schreibt (S. 87/88): „Wenn sie nach links oder rechts blicken, tun sie das häufig nur verstohlen. Der Kopf folgt nicht den Augenbewegungen. Wir haben es hier … mit demselben Phänomen zu tun, das uns beim Beiseiteblicken des Häftlings begegnet, auch wenn dieser den widerstreitenden Impuls hat, sorgfältig zu beobachten. Beide Verhalten resultieren aus der Überzeugung, dass man es sich nicht merken lassen soll, wenn man andere beobachtet, weil solches Beobachten unerwünscht ist.“

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