Dürfen wir über mulmige Gefühle sprechen oder sind wir zur Toleranz verdammt?

In der Säuglingsforschung misst man die Überraschung des Säuglings unter anderem daran, wie oft und wie stark er an seinem Schnuller saugt. Säuglinge haben schon früh ein Gespür für Stimmigkeit. Wenn man ihnen zwei Bälle plus einen Ball liefert, rechnen sie mit drei Bällen. Lässt man einen Ball weg, schauen sie länger hin und zeigen durch verstärktes Saugen, dass sie erregt und überrascht sind. Auch wir Erwachsene haben ein Gespür für das „Normale“. Wenn etwas nicht „normal“ ist, also mit unseren inneren Bildern nicht übereinstimmt, dann steigt auch bei uns kurzfristig die Erregung an.

Auf der einen Seite ist der Unfall, auf der anderen Seite stehen die „Gaffer“, wie es rasch heißt. Doch es ist uns ein Bedürfnis, zu schauen, wenn etwas passiert ist. Kleinkinder erschrecken sich an Karneval vor den verkleideten Menschen. Weiße kleine Kinder fürchten sich mitunter, wenn sie das erste Mal einen Schwarzen sehen – und umgekehrt. Kleine Kinder in Japan starren den Weißen an.

Mit der Forderung wächst die Unsicherheit

Ich weiß noch, wie unser Lehrer in der Grundschule sagte: „Starrt behinderte Menschen nicht so an.“ Erst von da an war mein Umgang mit Menschen im Rollstuhl umständlich. Ich schaute natürlicherweise neugierig, dann kam die innere Stimme des Lehrers und dann die Verkrampfung. Heute bin ich Ärztin und wenn ich jemanden mit einer Peroneus-Parese oder einer Halbseiten-Lähmung sehe, dann starre ich immer noch, aber entspannt mit einem medizinischen Interesse. Als Ärztin darf ich das.

In mir wächst ein mulmiges Gefühl, wenn russische Musik verboten wird. Andere macht es unruhig, wenn sie nicht verboten wird. Können wir über unsere Gefühle sprechen und über die Ursachen unserer Gefühle? Dahinter stecken immer auch existenzielle Ängste.

Das Thema Transition ist zur Zeit allgegenwärtig. Man muss tolerant sein, weil die Betroffenen sehr leiden, so lautet die unausgesprochene Forderung. Doch es ist für viele von uns doch mit einem „komischen Gefühl“ verbunden, wenn ein Mann zur Frau wird oder umgekehrt. In einer Doku („Ich und die anderen“) hörte ich ein paar Mal, wie junge Erwachsene in der Transitionsphase sagten: „Ich habe Angst, dass der andere nun dies oder jenes sagt.“ Es ist aber die Frage, ob das, was der andere sagt, nicht auch die inneren Zweifel widerspiegelt? Darf das Erleben ambivalent bleiben? Dürfen Zweifel angesprochen werden?

Wie frei dürfen wir mit uns selbst und anderen denken und sprechen?

Es gibt so viele unausgesprochene Gesetze, die zu einer Denk- und Sprachhemmung führen. Wer heute noch die psychischen Verursachungs-Anteile bei Autismus sucht, wird als hinterweltlerisch abgestempelt. Offene Fragen darf es nicht mehr geben. Der Klimawandel muss zu 100% menschengemacht sein. Wer sich einmal die Dokumentation (arte) des Klimaforschers Henrik Svensmark anschaut, der wird vielleicht erschüttert sein darüber, wieviel Schweiß und Mühe dieser Forscher in seine Untersuchungen steckt und wie ein anderer Wissenschaftler ihm dazu rät, doch erst einmal die Fachblätter zu lesen, bevor er „Unsinn“ erzählt.

Das, was außen geschieht, geschieht auch in unserer Psyche.

Wir sind zu streng mit uns. Wir befürchten, durch das Sprechen über Zweifel, könnten sich Zweifel und Intoleranz verfestigen. Doch oft ist das Gegenteil der Fall: Indem wir über unsere Irrationen sprechen können, werden wir weniger einsam und auch freier.

Können wir Ungereimtheiten und Ambivalenzen tolerieren? Dürfen sie sein?

Dürfen wir noch ins Gespräch kommen – äußerlich wie innerlich mit uns selbst? Manche haben das Gefühl, heute zu ersticken an all ihrem Unausgesprochenem. Viele denken, sie seien nicht normal, wenn sie eine Verunsicherung darüber verspüren, dass sie einen anderen Menschen nicht sofort als Mann oder Frau erkennen können. Wenn wir versuchen, einem blinden Menschen in die Augen zu schauen, arbeiten wir innerlich – es ist eben anders.

Doch wir sind „normal“. Wir alle haben ein inneres Bild von dem „Normalen“. Diese Bilder unterscheiden sich in den Kulturen und Familien. Wenn wir unsere Verachtung bemerken und versuchen, sie zu überwinden und wenn wir einmal neugierig auf die Irritationen in uns selbst und bei anderen sind, können wir ganz anders twittern und zusammen sein.

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