
Kaum glaubt der Psychoanalytiker, dass der Patient „Fortschritte“ macht, erzählt der Patient, dass es ihm plötzlich schlechter gehe als je zuvor. Es scheint, als würde der Fortschritt auf der einen Seite einhergehen mit einem Rückschritt auf der anderen Seite. Sigmund Freud beschrieb die „Negative therapeutische Reaktion“ in seinem Beitrag „Das Ich und das Es“ bereits im Jahr 1923.
„Es gibt Personen, die sich in der analytischen Arbeit ganz sonderbar benehmen. Wenn man ihnen Hoffnung gibt und ihnen Zufriedenheit mit dem Stand der Behandlung zeigt, scheinen sie unbefriedigt und verschlechtern regelmäßig ihr Befinden. Man hält das anfangs für Trotz und Bemühen, dem Arzt ihre Überlegenheit zu bezeugen. Später kommt man zu einer tieferen und gerechteren Auffassung. Man überzeugt sich nicht nur, daß diese Personen kein Lob und keine Anerkennung vertragen, sondern daß sie auf die Fortschritte der Kur in verkehrter Weise reagieren. Jede Partiallösung, die eine Besserung oder zeitweiliges Aussetzen der Symptome zur Folge haben sollte und bei anderen auch hat, ruft bei ihnen eine momentane Verstärkung ihres Leidens hervor, sie verschlimmern sich während der Behandlung, anstatt sich zu bessern. Sie zeigen die sogenannte negative therapeutische Reaktion.“ Sigmund Freud: Das Ich und das Es, 1923
„Kein Zweifel, daß sich bei ihnen etwas der Genesung widersetzt, daß deren Annäherung wie eine Gefahr gefürchtet wird. Man sagt, bei diesen Personen hat nicht der Genesungswille, sondern das Krankheitsbedürfnis die Oberhand.“
„Analysiert man diesen Widerstand in gewohnter Weise, zieht die Trotzeinstellung gegen den Arzt, die Fixierung an die Formen des Krankheitsgewinnes von ihm ab, so bleibt doch das meiste noch bestehen, und dies erweist sich als das stärkste Hindernis der Wiederherstellung, stärker als die uns bereits bekannten der narzißtischen Unzugänglichkeit, der negativen Einstellung gegen den Arzt und des Haftens am Krankheitsgewinne.“
„Man kommt endlich zur Einsicht, daß es sich um einen sozusagen »moralischen« Faktor handelt, um ein Schuldgefühl, welches im Kranksein seine Befriedigung findet und auf die Strafe des Leidens nicht verzichten will. An dieser wenig tröstlichen Aufklärung darf man endgültig festhalten.“
Sigmund Freud (1923):
Das Ich und das Es. V Abhängigkeiten des Ichs
Fischer Verlag 1975, Projekt Gutenberg
https://www.projekt-gutenberg.org/freud/ichundes/chap005.html
Seither gibt es unzählige Theorien zur Negativen Therapeutischen Reaktion.
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