
Auch das Negative arbeitet in uns: Die Abwesenheit der Mutter des anderen kann uns enorm beschäftigen. Wenn das äußere Objekt nicht da ist, dann sind wir mit unserem Ich ganz besonders allein – es wird deutlich spürbar, manchmal sogar übermächtig und quälend. Wenn wir mit einem anderen zusammen sind und in uns selbst etwas spüren, was wir nicht haben wollen, dann stoßen wir es gerne aus. Wir bringen es im anderen unter (projektive Identifikation) oder wir verdrängen und verleugnen es, also schieben es bei uns selbst in den Keller. Das alles setzt voraus, dass wir uns selbst als abgegrenztes Wesen erleben können.
Was aber, wenn diese Grenzen noch nicht aufgebaut wurden oder wieder aufgelöst sind? Dann kann psychoanalytische Arbeit schwierig werden. Der Psychoanalytiker André Green prägte den Begriff „Le travail du négatif“ (Editions de Minuit, 1993).
Manche Patienten „tun so“, als gebe es weder sie selbst noch den anderen. Sie ziehen die „Besetzung“, also die Aufmerksamkeit vom Analytiker und vielleicht auch von sich selbst ab, das heißt: Sie interessieren sich nicht für sich und den anderen. Diese Form des „Abzugs der Besetzung“ (also des Abzugs der Liebe, der Energie, der Libido) wird auch als „Desobjektalisierung“ bezeichnet. Sie ist das Ergebnis einer „Arbeit des Negativen“ in uns.
Es herrscht das Nichts
Der Analytiker fühlt sich dann manchmal wie „Luft“. Er fühlt sich wirkungslos. Der Patient sagt vielleicht, es ist, als rede er mit einer Wand. Das Analytiker spürt das „Nichts“, das „Abwesende“ in sich selbst. Er hat möglicherweise keine Einfälle und spürt nur Leere. Vielleicht kann der Analytiker noch denken oder erahnen, dass hinter der Leere wuchtige Phantasien, Emotionen und Erinnerungen stecken. Vielleicht zeigt der Patient aber auch, wie es ist, gar kein „Ich“ zu haben und in einer Welt ohne „Ich und Du“ zu leben.
Der Analytiker macht dem Patienten das „Negative“ zugänglich, indem er diesen leeren Raum in sich und zwischen dem Patienten und sich selbst (siehe „Psychoanalytisches Feld„) wahrnimmt, beobachtet oder verbalisiert. So kann dann das Negative (also das „Fehlende“, das „Nicht-da-Seiende“) gespürt oder vielleicht sogar besprochen werden.
Das Problem ist oft, dass dieses Nichts, das da in uns und „um uns herum“ wütet, so schwer zu besprechen und zu symbolisieren ist – es ist ähnlich wie mit dem Tod: Wir ringen um eine Vorstellung, doch es ist sehr schwierig, sich so etwas wie „den Tod“ oder „das Nichts“ vorzustellen. Es ist wie ein leerer Raum in uns und um uns herum. Vielleicht haben wir das Gefühl, noch nicht einmal eine Grenze zu haben, die einen leeren Raum enthalten könnte.
Trauma und die namenlose Angst
Insbesondere nach frühkindlichen Traumata (komplexe posttraumatische Belastungsstörung) leiden die Betroffenen häufig unter einer „namenlosen Angst“ (Ausdruck geprägt von Wilfred Bion). Sie können kaum beschreiben, was sie fühlen und finden keinen Grund, warum sie so fühlen. Sie leiden möglicherweise an präverbalen Zuständen, also an psychischen Zuständen, die sie als gequältes Baby hatten, ohne dafür schon Worte oder dazu eine Vorstellung (Repräsentation) zu haben.
Hier kann „gemeinsames Träumen“ (Reverie) manchmal der Weg in unbekannte, noch wortlose Welten sein und manchmal findet sich dann ein gemeinsames Narrativ, eine „Erklärung“ für diese Zustände, was die Betroffenen sehr entlasten kann.
Manchmal spüren wir vielleicht auch, wie eine „böse Kraft“ in uns uns selbst angreift. Sie lähmt uns, macht uns unglücklich, verursacht Herzschmerzen oder Hautreizungen. Sie veranlasst uns manchmal zu selbstverletzendem Verhalten. Hier spielt manchmal ein strenges Über-Ich eine Rolle oder ein wortloser Teil in uns, der auf uns selbst neidisch wird, wenn es uns gut geht (siehe „negative therapeutische Reaktion“). Hier spüren wir manchmal das Negative in uns wüten, ähnlich wie schlechtes Wetter über unserer Region wütet.
„Several years ago I proposed to designate as ‚the work of the negative‘ all the psychic operations of which repression is the prototype and which later gave rise to distinct variations such as negation, disavowal and foreclosure.“
(„Noch vor einigen Jahren schlug ich vor, ‚die Arbeit des Negativen‘ als alle psychische Operationen zu bezeichnen, deren Prototyp die Verdrängung ist. Daraus leiten sich verschiedene Variationen wie Verneinung, Verleugnung und Ausgrenzung ab.“)
André Green: 17 The Work Of The Negative. Negative Hallucination. In: Reading French Psychoanalysis. Edited by Dana Birksted-Breen, Sara Flanders and Alain Gibeault, Routledge Taylor & Francis Group, London and New York S. 356
André Green schreibt in „The Work of the Negative“ (PDF):
„Eating and spitting out involve on the one hand incorporation (of the object) and, on the other, what I have called excorporation, a mechanism which is prior to projective identification, in my view.“
(‚Essen und Ausspucken‘ heißt einerseits Inkorporation (eines Objektes), andererseits Exkorporation. Unter Exkorporation verstehe ich einen Mechanismus, der noch vor der Projektiven Identifikation liegt.)
„I spit out or I vomit. … The excorporation in which I see the prototype of a no of the id in the forms of ‚I am spitting out‘ or ‚I am vomiting‘, does not imply the existence of an object in the space which receives what is expelled.“
(Ich spucke aus oder übergebe mich. … Diese Exkorporation sehe ich als Prototyp eines ‚Neins‘ des Es an. Es hat die Form von ‚Ich spucke aus‘ oder’Ich kotze‘. Das heißt aber nicht, dass es unbedingt ein Objekt im Raum gibt, welches das Ausgestoßene empfängt.)
„We may even wonder if the expelled products do not disappear in the process.“
(Wir können uns sogar eher fragen, ob die ausgestoßenen Produkte nicht sogar eher im Prozess verschwinden.)
„In any case, the identification of the space seems to me to be prior to that of the objects it might contain.“
(In jedem Fall scheint die Identifikation des ‚Raums‘ noch vor dem Erkennen des Ojektes zu liegen, das der Raum enthalten könnte.)
„I am thinking of the noticeably hostile atmosphere in certain delusions before the persecutor is designated.“
(Ich denke da besonders an die feindselige Atmosphäre bei manchen Wahnvorstellungen, bevor der Verfolger festgemacht werden kann.)
„Furthermore, I do not think that we can infer that there is a boundary between inside and outside.“
(Außerdem können wir nicht unbedingt davon ausgehen, dass es da eine Grenze zwischen dem Innen und dem Außen gibt.)
„All that exists is the idea – if one can put it this way – of expelling as far away as possible.“
(Alles, was existiert, ist die Idee – wenn man es so sagen kann – eines Ausstoßens, das so weit wie möglich reichen sollte.)
„There is no justification for speaking of a ’not-ego‘ at this stage because the ego-not-ego boundary has not been established.“
(Es gibt keinen Grund, von einem ‚Nicht-Ich‘ zu sprechen, weil in diesem Stadium die ‚Ich- – Nicht-Ich-Grenze‘ noch nicht geschaffen wurde.)
… „Expelling what is bad allows for the creation of an internal space in which the ego as an organisation can come into being.“ …
(Auszustoßen, was schlecht ist, erlaubt es, einen inneren Raum zu erschaffen, in dem das ‚Ich‘ als Organisation in das Sein treten kann.)
„This organisation facilitates recoginition of the object as separate in the space of the not-ego as well as the reunion with it.“
(Diese Ich-Organisation erleichtert es dem Subjekt, ein Objekt als etwas Separates im Raum des Nicht-Ich zu erkennen. Somit kann auch eine Vereinigung mit dem Objekt möglich werden.)
… „In order for the formation of baby’s ego to occur, allowing him to say yes to himself, the mother must accept that he can say no to her. And not only in the form of ‚you are bad‘, but also occasionally ‚you don’t exist‘.“
(Damit sich beim Baby das ‚Ich‘ formieren kann, das es ihm erlaubt, ‚Ja‘ zu sich selbst zu sagen, muss die Mutter akzeptieren, dass das Baby auch ‚Nein‘ zu ihr sagen kann. Und dieses ‚Nein‘ kommt nicht nur in der Form von ‚Du bist schlecht‘, sondern auch in der Form von ‚Du existierst gar nicht‘.)
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- Zentrale phobische Position nach André Green
Literaturtipps:
Reed, Gail S. and Levine, Howard B. (2019):
André Green Revisited
Representation and the Work of the Negative.
Published July 31, 2018 by Routledge
Benedetti, Gaetano
Todeslandschaften der Seele.
Psychopathologie, Psychodynamik und Psychotherapie der Schizophrenie.
Verlag für Medizinische Psychologie Göttingen, 1983
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