
Bei der Phobie ist es ganz einfach: Der zugehörige bewusste Affekt ist die Angst. Auch bei der Zwangsstörung ist das Problem die Angst, die jedoch besonders dann bewusst wahrgenommen wird, wenn der Zwang nicht ausgeführt werden kann. Viele spüren nur eine vage Unruhe oder ein unbestimmtes Schuldgefühl. Wichtig finde ich jedoch den Affekt des „Drangs“. Im Zwangszustand ist es mitunter so, als hörte man eine Tonleiter, die auf dem 7. Ton endet. Der 8. Ton, den man sehnlichst erwartet, kommt einfach nicht. Es erinnert an einen Sexualakt, bei dem der Orgasmus ausbleibt.
Der Zwangskranke „will es fertig bekommen“, er will den Durchbruch erlangen, er möchte etwas aus-drücken und er möchte endgültig befreit und erleichtert sein, Doch am Ende des Zwangs bleibt immer der Zweifel.
„Wenn ich nur das und das erkenne, dann ist das der Durchbruch zur Erleichterung, ja zur Erlösung“, lautet die unbewusste Vorstellung des Zwangskranken. Der Drang nach Erlösung steht ganz oben. Jeder Zwang ist eigentlich eine Suche nach Erlösung. Der Zwang ist ein Gefühl wie kurz vor dem Ziel zu stehen. Aber es kann oder darf nicht wirklich erreicht werden. Der „Orgasmus“ ist sozusagen verboten.
Der Psychoanalytiker Thomas Ogden schreibt in seinem Buch „Frühe Formen des Erlebens“ (Psychosozial-Verlag 2006) über eine Patientin, die ihren Atem zwanghaft kontrollieren musste, aber auch unter weiteren Zwängen litt: „Sie konnte es nicht zulassen, dass sie irgendeine Türe ihrer Wohnung öffnete, … bevor sie nicht diese Aufgabe erfolgreich gelöst hatte. Sie verglich ihr ‚Mit-einem-Gedanken-ins-Reine-Kommen‘ mit einem Orgasmus; es handelte sich dabei um ein Zusammenfügen verschiedener Empfindungen und Rhythmen auf eine ganz spezifische Weise. Jahrelang füllte sie diese zwanghafte Aktivität praktisch jeden Augenblick ihres Lebens aus. Im Verlauf der Therapie wurde klar, dass diese Aktivitäteine Fomr des Wohlbefindetns mit sich brauchte, die einerseits eine alptraumhafte tyrannisierende Qualität hatet, andererseits aber lebensrettend war“ (S. 65).
Der bewusste Haupt-Affekt der Zwangsstörung ist der quälende Drang, der keine Erlösung findet.
Sigmund Freud: „Letzterer (Anmerkung: Der Affekt) ist bei den Phobien stets der nämliche, der der Angst ; bei den echten Obsessionen kann er mannigfaltiger Natur sein (Vorwurf, Schuldgefühl, Zweifel etc.). Der Affektzustand erscheint als das Wesentliche der Obsession, da er im einzelnen Falle unverändert bleibt, während die angehängte Vorstellung gewechselt wird.“ (Sigmund Freud: Die Abwehr-Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie der akquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser halluzinatorischer Psychosen. Psychologische Theorie der Phobien und Zwnagsvorstellungen)
Das bedeutet unter anderem, dass die Zwänge zwar wechseln können (z.B. Treppenzählen, an den Tod denken, Zwangsbewegungen ausführen), dass das Gefühl dahinter aber gleich bleibt. Oft ist es ein quälendes Gefühl im Kopf. Thomas Ogden schreibt ähnlich: „Das Ruminieren (Anmerkung: also das gedankliche Wiederkäuen) war die Quintessenz reiner, gleichbleibender Empfindung“ (Ogden, S. 68).
Sigmund Freud schreibt weiter: „Die psychische Analyse zeigt, dass der Affekt der Obsession jedes Mal gerechtfertigt ist, dass aber die ihm anhängende Idee eine Substitution darstellt für eine zum Affekt besser passende Vorstellung aus dem Sexualleben, welche der Verdrängung verfallen ist.“ Freud, Gesammelte Werke, Band I, 1895, Obsessions et phobies. Leur mécanisme psychique et leur étiologie.
Das heißt, dass hinter jedem Zwang ein Affekt (also ein starkes Gefühl) steht, das seine Berechtigung hat. Der Betroffene bezieht das Gefühl jedoch nicht auf das, wozu es wirklich gehört, z.B. auf eine unangenehme Vorstellung, sondern das Gefühl geht sozusagen Sinn-entleert aus und bezieht sich auf eine Zwangsvorstellung, die ein Ersatz für das Eigentliche (z.B. Angst vor Ärger oder Zerstörungswut) ist.
Zwänge sind verbunden mit bestimmten Empfindungen
Man kann den Zwang infolge der vielen Trauma-Theorien vielleicht auch so verstehen, dass das Zwangsgefühl ein ursprüngliches Gefühl ausdrückt, z.B. eine hochunangnehme Empfindung, für die wir irgendwie Worte suchten, aber noch keine Worte fanden, weil wir noch nicht sprechen konnten oder weil die Situation so überfordernd war. Wir „erfinden“ dann einen Zwang, der zu diesem ursprünglichen Gefühl passt und es aufrecht erhält. Wir erfinden also ein Symbol, das aber mit dem Ursprünglichen in enger Verbindung steht, z.B. können wir „ein komisches Gefühl im Kopf“ haben, das wir vielleicht als Kleinkind oder Jugendliche hatten, wenn wir quälenden Situationen ausgesetzt waren. Wir versuchen mit dem Zwang immer noch, das Unfassbare zu verarbeiten.
So ein grausiges Gefühl kann z.B. dann entstehen, wenn uns die Bedeutung von etwas verloren geht. Wenn wir als Kleinkind auf einmal bemerken, dass unsere Mutter uns nicht hält, dass ihre Berührungen „komisch“ sind oder dass ihre Worte nicht auf uns bezogen sind oder voller Angst sind, dann können wir ein merkwürdiges Gefühl bekommen. Es ist fast, als würde uns eine schützende Haut fehlen, mit der wir wahrnehmen können. Es ist, als würde unser Inneres herausquellen in einen „end- und formlosen Raum“ (S. 40, Thomas Ogden: Frühe Formen des Erlebens, Psychosozial 2006).
Wir brauchen Sinn
Wenn wir in einer Beziehung, die uns Containment bieten sollte, plötzlich kein Containment mehr spüren oder wenn das Containment bedeutungslos wird, weil der wir selbst oder der andere mit der eigenen Innenwelt beschäftigt sind, dann kann das Gefühl eines „namenlosen Grauens“ entstehen (Bion 1959: Attacks on linking: International Journal Of Psycho-Analysis 40: 308-313).
Im Zwang besteht häufig das Gefühl des Eingeschlossenseins und der Verzweiflung, also der Auswegslosigkeit. „Verzweiflung“ enthält das Wort Zweifel. Manchmal geht die Verzweiflung zurück, wenn wir den dahinterliegenden Zweifel zulassen und uns fragen: „Ist das wirklich das Richtige für mich?“ Im Video von Jan Josef Liefers (#allesdichtmachen, Youtube) vom 22.4.2021 ist es schön gesagt: „Verzweifeln Sie ruhig, aber zweifeln Sie nicht.“
Verwandte Artikel in diesem Blog:
- Anale Phase – Töpfchentraining unnötig
- Das Tourette-Syndrom aus psychoanalytischer Sicht
- Magisches Denken
- Keine Angst vor bösen Gedanken (Freud-Zitate)
- Zwangsgrübeleien sind wie „gestörter Schlaf“ am Tag
- Zwangsstörung: Das Leiden darunter, dass etwas nicht in Ordnung ist
- Angst vor der Unendlichkeit
- Atemnot: „Ich habe nie das Gefühl, normal atmen zu können.“
Literaturtipp:
Avner Bergstein:
Attacks on Linking or a Drive to communicate? Tolerating the paradox.
Psychoanal Q 2015 Oct;84(4):921-42. doi: 10.1002/psaq.12043.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26443950/
Dieser Beitrag wurde erstmals verfasst am 20.7.2020
Aktualisiert am 26.6.2022
Schreibe einen Kommentar