
„Mein Analytiker ist letztens in der Sitzung eingeschlafen! Und dann sagt er auch noch, dass es mit mir zu tun haben könnte!“, erzählt ein Analysand entsetzt. In der Psychoanalyse liegt der Patient auf der Couch und der Analytiker sitzt im Sessel dahinter. Dieses Setting lädt auf gewisse Art zum Einschlafen ein. Auch Psychotherapeuten, die mit ihren Patienten im Sich-Gegenüber-Sitzen arbeiten, kennen Müdikeitsreaktionen. Doch dass es insbesondere ein Phänomen der Psychoanalyse sein könnte, davon schreibt der Psychoanalytiker Ralf Zwiebel (DPV) in seinem Buch „Der Schlaf des Analytikers“, das bereits 1992 erstmals erschien.
„Das beste Mittel gegen das Einschlafen ist das Ausgeschlafensein“, heißt es. Doch Müdigkeitsreaktionen in der Psychoanalyse können sich beim Psychoanalytiker ereignen, auch wenn er noch so ausgeschlafen ist.
So müde!
Ralf Zwiebel beschreibt seine Müdigkeitsreaktion in seinem Buch so: „… ich beginne krampfhaft an andere, angenehmere Dinge zu denken, oder ich male mir aus, wie schön es wäre, jetzt in meinem gemütlichen Bett zu liegen und einschlafen zu können. Seltener gebe ich mich dann diesen Wünschen hin und schlafe vielleicht für einen kurzen Moment ein; zu anderen Zeiten gebe ich mir einen Ruck und entschließe mich zu einer Intervention, offenbar auch in der Hoffnung, diesen mich quälenden Prozess auf diese Art und Weise unterbinden zu können“ (S. 19).
Ralf Zwiebel untersuchte für sich, wie oft es zu Müdigkeitsreaktionen bei ihm kam und kreiterte eine Selbsteinschätzungsskala mit 5 Punkten: „0 bedeutete keine Müdigkeit, 1 geringe Müdigkeitstendenzen …, 2 deutlichere Müdigkeiten …, 3 und 4 stärkere bis massive Müdigkeiten mit Einschlaftendenzen und 5 manifester Schlaf.“ Von 276 Sitzungen innerhalb von 13 Wochen bewertete er 138 mit 0. In einer Sitzung kam es zum Einschlafen (5). Den Wochendurchschnitt bewertete er mit 0,6 und 0,8 (S. 22).
Ein Kampf
Für die Müdigkeitsrekation findet Ralf Zwiebel viele Gründe, die unter anderem mit dem Kampf um den Erhalt der „analytisch-therapeutischen Position“ (ATP) zu tun haben. Wünsche, aus der Rolle des Analytikers herauszutreten und dem Patienten noch näher zu sein, könnten zum Beispiel dazu gehören.
Der Analytiker fühlt sich auf seinem Sessel hinter der Couch mitunter einsam und die „Nicht-Bezogenheit“ des Patienten auf den Analytiker kann Müdigkeit wachrufen. Das heißt: Wenn der Patient versucht, der Beziehung zum Analytiker aus dem Weg zu gehen und z.B. nur „plappert“ (was ja auch etwas über die Beziehung aussagt), kann sich beim Analytiker Müdigkeit einstellen.
Die Analytisch-Therapeutische Position (ATP) erhalten
Die „Analytisch-therapeutische Position“ (ATP) versteht Ralf Zwiebel nicht nur als innere Haltung des Analytikers (wozu z.B. Abstinenz und gleichschwebende Aufmerksamkeit gehören), sondern auch als etwas, das „eine räumliche Qualität hat“ (S. 29). So könne der Analytiker z.B. träumen, er liege plötzlich neben dem Patienten, was auf eine Störung der analytisch-therapeutischen Position hinweise (S. 29).
Müdigkeitsreaktionen könnten vielleicht auch verstanden werden als „eine Antwort auf dieses Gefühl des Nicht-Verstehens und Nicht-Wissens …“ (S. 23). Außerdem könnten Müdigkeitsreaktionen verstanden werden als eine „projektive Identifizierung“, also als etwas, das vom Patienten ausgeht und mit dem sich der Analytiker identifiziert. Beispiel: Ein Patient, der immer die Kontrolle behalten möchte, sich nie entspannen kann, aber doch eine – vielleicht unbewusste – Sehnsucht hat, sich fallen zu lassen und sozusagen auf dem Schoß der Mutter oder des Vaters einzuschlafen, könnte diesen Wunsch aus Angst heraus extrem abwehren. Doch das, was der Patient eigentlich ersehnt (nämlich endlich einmal einzuschlafen), könnte sozusagen im Analytiker landen, der dann müde wird. Wird dieses Phänomen erkannt und bearbeitet, kann es passieren, dass der Patient selbst müde wird und einschläft.
Ralf Zwiebel schreibt von einem Patienten, der immer wieder Müdigkeitsreaktonen in ihm auslöste, bis der Patient irgendwann begann, „selbst schläfrig zu werden“ (S. 69). Dieser Patient schlief dann einige Male ein, „einmal sogar fast eine ganze Stunde lang. In dieser Stunde konnte ich ganz wach bei dem Patienten sitzen und über das Problem der Müdigkeit nachdenken“ (S. 69).
Typisch für die Müdigkeitsreaktion in der psychoanalytischen Sitzung sei es, dass sie sofort aufhören kann, sobald ein erneuter emotionaler Kontakt zwischen Patient und Analytiker entsteht, z.B. durch ein Verstehen, durch eine richtige Deutung oder dadurch, dass der Patient plötzlich Bezug auf den Analytiker nimmt.
Das Buch ist reich an Fallgeschichten, in denen Ralf Zwiebel genau beschreibt, wie bei ihm Müdigkeit in der analytischen Sitzung auftritt, wie sie zu verstehen ist und wie sie mitunter von einem Augenblick auf den anderen verschwindet.
Auch der Rahmen kann eine Rolle spielen
Ralf Zwiebel zieht auch in Betracht, dass die Frequenz, also die Anzahl der Behandlungsstunden pro Woche, eine Rolle bei der Müdigkeitsreaktion spielen könnte (z.B. ab S. 129) und dass es sich bei wiederholten Müdigkeitsreaktionen auch lohnen könnte, über den Rahmen nachzudenken.
Beispielsweise stellt Ralf Zwiebel fest: „… dass ich massivere und vor allem auch chronische Müdigkeitsreaktionen entwickelte, (wenn) eine Frequenz von zwei Stunden pro Woche im Liegen verinbart worden war“ (S. 130). Die Müdigkeit könnte z.B. verstanden werden als eine „gemeinsame Angst davor …, sich wirklich schonungslos dem sich anbahnenden Beziehungsprozess anzuvertrauen oder sich ihm auszusetzen …“ (S. 130).
Der Wahrheit auf der Spur
Was mir besonders gut an Ralf Zwiebels Buch gefällt, ist seine bodenständige Ehrlichkeit. Es gelingt ihm, sehr plastisch darzustellen, wie unangenehm, komplex und schwierig sich so manche Analysesitzung anfühlen kann und wie sehr der Analytiker auch mit eigenen Schuld- und Schamgefühlen beschäftigt ist.
Er beschreibt eine Sitzung, in der er sich zunächst hilflos fühlte, dann intervenierte und schließlich zunächst das Gefühl hatte, „komplett versagt zu haben“ (S. 152/153). „… ich sagte mir aber auch, dass ich in dieser Situation nicht anders konnte, ich es zwar versucht hatte, es mir aber nicht gelungen war. Nur durch die Anerkennung dieser Seite von mir, dieser ‚Schwäche‘ als Analytiker, konnte ich insgesamt mit einer gestärkten analytischen Position dem Patienten weiterhin gegenübertreten“ (S.153).
„Ich glaube …, dass es diese tiefe Angst ist, wirklich umfassend ‚erkannt‘ und dann verstoßen, verlassen oder verlacht zu werden, die sich in unseren immer wieder verzweifelten Versuchen, die scheinbar intakte Fassade aufrechtzuerhalten, niederschlägt. Und es ist offenbar so schwer, wirklich zu glauben, dass man nur ‚überleben‘ und lebendig werden kann, wenn alles sichtbar und anerkannt werden kann“ (S. 153).
Es ist entlastend, wie er darüber schreibt, wie geschönt so manche Fallberichte sein können, weil Psychoanalytiker sich auch schützen möchten und daher nicht immer die ganze Wahrheit schreiben. Zwiebel schreibt: „Auch gilt es immer wieder, der Versuchung zu widerstehen, glänzende, birillante Fallszenen zu schildern, die einen in das Licht setzen, das man natürlich gerne verbreiten möchte. Ich denke öfter, dass die analytische Literatur voll von Kasuistik ist, die mindestens eine Etage zu ‚hoch‘ angesiedelt ist“ (S. 152).
Ein reiches, zeitloses Buch – sehr empfehlenswert!
Ralf Zwiebel:
Der Schlaf des Analytikers
Klett-Cotta, Stuttgart 1992/2010
www.klett-cotta.de/buch/Psychoanalyse/Der_Schlaf_des_Analytikers/12569
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Dieser Beitrag wurde erstmals verfasst am 28.4.2019
Aktualisiert am 21.3.2022
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