
Wer seine Neurodermitis-Stelle kratzt, der spürt dabei vielleicht manchmal sexuelle Erregung. Diese Erregung wird immer stärker und es wird immer schwieriger, mit dem Kratzen aufzuhören. Wenn der Juckreiz aufhört und vielleicht Schmerz einsetzt, wird dies oft als große Erleichterung erlebt. Diese Erleichterung kann dem Erleben eines Orgasmus fast gleich kommen. Danach schmerzt die aufgekratzte Stelle jedoch oft so sehr, dass man sich schwört, nie wieder daran zu kratzen. Man versucht, beim Abtrocknen nicht zu sehr zu „trocknen“ und schon geht es wieder los.
Aus dem Juckreiz wird durch Kratzen ein Schmerzreiz: Sobald die Hautstelle genug bekratzt wurde, juckt sie nicht mehr, sondern sie blutet und schmerzt. Ähnlich wie nach einem sexuellen Höhepunkt hat man dann keine Lust mehr zu kratzen.
„Manchmal fühlt sich das Kratzen bei Neurodermitis an wie sexuelle Erregung. Erst, wenn der Schmerz da ist, hört der Teufelskreis aus Jucken und Kratzen auf“, sagt eine Patientin.
Es ist schwer, nicht anzufangen
Zuerst beginnt man sich oft zu kratzen, weil etwas anderes im Vordergrund steht: z.B. starker Ärger oder morgens nach dem Aufwachen starke Müdigkeit. Doch sobald man zu kratzen beginnt, kommen die erregenden Gefühle hinzu – und sie halten das Kratzen aufrecht, bis man sich irgendwann sagen kann: „Jetzt reicht es.“ Hinterher, wenn die Wunden doch zu groß sind, schwört man sich, es demnächst zu unterlassen.
Wichtig ist es, um diese Zusammenhänge zu wissen. Wenn ich weiß: „Gleich, wenn ich zu kratzen anfange, kann ich nicht mehr aufhören“, dann ist es manchmal leichter möglich, mit dem Kratzen gar nicht erst zu beginnen. Manche helfen sich dann damit, etwas Heißes oder sehr Kaltes zu trinken oder etwas Schokolade zu essen. Heißes Wasser zu trinken oder sich die heiße Tasse (vorsichtig) an den Körper zu halten, ist eine mögliche Methode, um sich nicht zu kratzen.
Der Psychoanalytiker Jorge Ulnik sagt: „Bevor ich mir die Hautstelle zeigen lasse, lasse ich mir von dem Patienten erzählen, wie es sich anfühlt“ (Youtube).
Der Psychoanalytiker Didier Anzieu schreibt: „… das Kratzen (ist) archaischer Ausdruck der Wendung von Aggression gegen den eigenen Körper … Das daraus resultierende Schamgefühl hängt mit dem Unvermögen zusammen, das Kratzen zu unterlassen, wenn man einmal begonnen hat …. Die Scham wird geringer, wenn die mit dem Kratzen verbundene erotische Erregung ansteigt – ein pathologischer Teufelskreis.“
Didier Anzieu: Das Haut-Ich. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 6. Auflage 2016: S. 34
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Interessante Literatur:
Acarophilie: Sexuelle Lust durch Kratzen
https://www.freakypedia.com/term/acarophilia/
Psychosexual Stimulation: Sex Differences
Volkmar Sigusch, Gunter Schmidt, Antje Reinfeld, Ingeborg Wiedemann-Sutor
The Journal of Sex Research 1970: 6 (1): 10-24
www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/00224497009550639?journalCode=hjsr20
„Ohne Perversion wäre die Liebe Ödnis“
Von Klaus Podak
Süddeutsche Zeitung, 19.5.2010
www.sueddeutsche.de/kultur/institut-fuer-sexualwissenschaft-am-ende-ohne-perversion-waere-die-liebe-oednis-1.892046
Alfred Charles Kinsley (1894-1956)
Amerikanischer Sexualforscher
de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Charles_Kinsey
Jorge Ulnik:
Skin in Psychoanalysis
Karnac Books 2007
Dieser Beitrag wurde erstmals veröffentlicht am 15.12.2018
Aktualisiert am 18.3.2022
modean meint
Hallo Frau Voos,
für mich ist der Kratzrausch in zweierlei Hinsicht ein dissoziativer Prozess. Zum einen muss man ja erst einmal über den Schmerz springen wollen, der durch den Kratzrausch entsteht und zum anderen verdrängt man dadurch das Übel des Juckreizes für einen kurzen Moment.
Gleichzeitig ist für mich die Neurodermitis ein komplexes Gebilde. Man kann nicht nur punktuell die Dinge betrachten, sondern muss sie in ihrer Gesamtheit betrachten.
Nach dem Kratzrausch kommt das sich selbst versorgen und das hat eben genauso eine Bedeutung.
Sprich zuerst kommt das Jucken respektive des Gefühls sich ob des Juckens komplett fremd zu sein, dann die Entscheidung bis zum Rausch zu kratzen, dann die Schuld und Scham ob des kratzens und das gleicht man dann dadurch aus, dass man sich selbst versorgt. Ich denke das muss man schon so in seiner Gesamtheit betrachten, den irgendwo steht man auch zu seinem Körper in Beziehung ergo ist das ganze laut meinem Empfinden ein Beziehungsgeschehen.
Mitunter unterscheidet sich das Erleben bei Neurodermitis zwischen Erwachsenen/Jugendlichen und Kindern. Bei Kinder versorgt für gewöhnlich die Mutter das Kind.
Viele Grüsse
modean