
Wenn ich so richtig wütend bin, was soll ich damit machen? Wie soll ich diese Wut rauslassen? Wir haben meistens das Bild davon, dass die Wut „raus“ muss – doch meistens richten wir damit nur Schaden an. Wir bekommen ein schlechtes Gewissen und merken, dass es uns nicht besser geht.
„Fühle die Wut als ein Energiefeld“, rät Eckhart Tolle. Wir können genau spüren, wie die Wut durch unseren Körper prickelt und wieviel Kraft dahinter steckt. Dieses Gefühl zuzulassen, ist nicht immer leicht. Die Wut „beherrschen“ soll heißen, dass wir weder uns selbst noch andere damit beschädigen. Das erreichen wir mitunter duch Selbst-Beobachtung, Fühlen, Atmen und Darüber-Sprechen. Es ist oft eine der schwersten Künste überhaupt.
Wenn wir verstehen, geht die Wut zurück
Wichtig ist zu wissen, dass Wut oft aus Unwissenheit entsteht. „Der will doch nur Macht über mich!“, denken wir, oder: „Das hat der doch mit Absicht getan!“ Wenn wir aber einen Einblick gewinnen, was im anderen wirklich vorgeht, dann sind wir oft sehr erstaunt. Dann kommen manchmal Verstehen und Mitgefühl auf. Unsere Wut ist nur dadurch entstanden, dass wir uns alles mögliche gedacht haben, ohne wissen zu können, ob es wirklich so ist.
Das Aufgeben der Wut hat oft mit dem Gefühl zu tun, Kontrolle aufzugeben. Das macht Angst. Wenn ich etwas zerstören will, habe ich es unter Kontrolle. Wenn ich etwas Gutes will, habe ich es nicht unter Kontrolle – dann bin ich auch abhängig vom anderen. Und ich weiß nicht, wie er reagieren wird.
„Mit mir kann man’s ja machen …“
Wut ensteht häufig aus dem Gefühl heraus, unterdrückt zu werden, nicht gewertschätzt, nicht gesehen, ausgeschlossen oder gequält zu werden. Wütend können wir aber auch werden, wenn jemand uns wirklich erkannt hat: Als Rumpelstilzchen bei seinem Namen gerufen wird, zerreißt es sich in der Luft. Wir denken so oft, dass es uns schützt, wenn wir dieses oder jenes von uns verstecken. Doch sehr oft stören wir damit den Kontakt zu uns selbst und zu anderen. Wenn uns jemand „erkennt“, ist das oft erst ein Schrecken, aber auf Dauer eine Erleichterung.
Bsonders stark ist die Wut auch, wenn wir ignoriert werden, wenn der andere nicht mit uns spricht.
Hier spielt auch eine Ur-Angst in die Wut mit hinein: Wir wären als Babys verloren gewesen, hätte die Mutter uns ignoriert. Wenn ein anderer nicht auf uns reagiert, ruft das extreme Verlassenheitsängste, aber auch Verlassenheits-Wut hervor. Man fühlt sich ohnmächtig – und Ohnmachtsgefühle sind ein ganz besonderer Zündstoff für die Wut.
Wut lässt sich verstehen
Wir helfen uns selbst, wenn wir uns selbst verstehen. Wenn der Partner sich einmal zurückzieht und nicht mit uns spricht, können wir extrem wütend werden. Wenn wir uns aber klarmachen, dass diese Wut vielleicht von früher herrührt und dass jeder einmal Momente des Rückzugs braucht, dann kann unsere Wut etwas gemildert werden.
Zwang und Druck aufgeben heißt Wut aufgeben. Den anderen zu fragen, anstatt einfach auf das zu reagieren, was wir uns selbst denken, kann in der Beziehung zu guten neuen Erfahrungen führen.
Sich Raum verschaffen
Wenn wir inneren Abstand finden, haben wir schon viel gewonnen, denn oft „überkommt“ uns die Wut. Wir fühlen uns völlig eins mit ihr, wir fühlen uns im Recht, wir befürchten, dass keiner sieht, wieviel Unrecht uns gerade geschieht. Je wütender wir sind, desto mehr sind wir mit dieser Wut identifiziert, desto mehr sind wir „ganz“ Wut. Je näher es uns an den Kern geht, desto wütender werden wir.
Wenn „geistige Gewissheiten“ (z.B. religiöse Überzeugungen) ins Wanken geraten, können wir wütend werden, doch diese Wut beruht meistens auf Angst.
Wut ist ein körperliches Geschehen
Wut ist ein außerordentlich körperliches Geschehen. Wenn wir lernen, unsere Anspannungen bis ins Detail wahrzunehmen, kann es uns auch gelingen, die einzelnen Anspannungen nacheinander wieder loszulassen. Die Atmung spielt eine große Rolle. Wenn es uns gelingt, uns unserem Atem zu überlassen, kann die Wut spürbar nachlassen. Auch Ausatmen gegen Widerstand kann hilfreich sein.
Um Wut kontrollieren zu können, ist es wichtig, die einzelnen Emotionen, die mit der Wut zusammenhängen, zu verstehen und früh wahrzunehmen. Ausgeschlossen zu sein aus einer Gruppe macht wütend und hilflos. In Ur-Zeiten bedeutete das den Tod. Wenn wir verstehen, dass auch die Stärke des Gefühls einen Sinn hat, können wir mit uns selbst besser mitfühlen. Mitgefühl macht die Wut kleiner.
Die Wut verdauen
Eines der besten Mittel, mit Wut umzugehen, ist nicht, sie rauszulassen, sondern sie zu verdauen, also sie zu transformieren. Wenn ich lange genug in ein Gefühl hineinspüre, wenn ich versuche, es genau zu beschreiben, kann ich manchmal feststellen, wie es zurückgeht. So auch mit der Wut: Nicht weglaufen, nicht abreagieren, nicht loswerden ist die Lösung, auch wenn wir noch so geneigt sind, so zu reagieren. Bleiben und etwas daraus machen, z.B. die Wut in gute Tatkraft oder in ein gutes Gespräch umzuwandeln, ist oft die bessere Lösung. Wut ist eine ungeheure Kraft. Sie zu nutzen, kann ein Segen sein.
Oft haben wir in Beziehungen auch das Gefühl, wir müssten uns ducken und anpassen, wir müssten mitmachen oder uns schon wieder entschuldigen und rechtfertigen. Wir sind überangepasst und unterwürfig, solange, bis die Wut hochkocht. Die „Mit-mir-nicht!-Wut“ oder die „Ich-kann-auch-ganz-anders!-Wut“ kann besonders verheerend sein und mitunter den Arbeitsplatz oder die Freundschaft kosten. Wut auf andere schadet am Ende mir selbst, wenn ich nicht darauf achte, wie ich mit der Wut umgehe.
Wut aus Abhängigkeit
Manchmal sind wir in Abhängigkeiten gezwungen, uns zurückzunehmen, ja manchmal sogar bis zu einem gewissen Grad uns zu unterwerfen. Wir müssen uns dann innerlich vertrösten und sagen: „Später mache ich es anders. Später arbeite ich an der Veränderung (dieser Schule, dieser Institution, dieses Arbeitsplatzes) mit.“ Den Missstand wahrnehmen und Pläne für die Zukunft schmieden ist manchmal mit die einzige Möglichkeit, eine starke Abhängigkeit auszuhalten.
In Institutionen, in Betrieben, Vereinen, Schulen, Universitäten können wir uns klar machen: Jede Institution übt – oft ungewollt – auch Gewalt aus.
Eine Institution kann sehr oft nicht dem Einzelnen gerecht werden. Wenn wir uns verdeutlichen, dass dies auch ein bisschen in der Natur der Sache liegt, können wir uns auch entspannen. In jedem Verein gibt es genug Grund zum Verzweifeln. „Die Meute ist schlecht“, könnte man sagen, doch jede Gruppe besteht aus einzelnen Menschen. Hier können wir uns an die Menschen halten, die mit uns sind.
Was hilft?
Die Arbeit an der Wut dauert lange. Geht es uns körperlich und seelisch gut, werden wir nicht so leicht wütend. Gut für uns zu sorgen, ist ein wichtiger Schritt bei der Arbeit an der Wut. Wenn es uns körperlich oder seelisch nicht gut geht, können wir versuchen, rücksichtsvoll mit uns selbst umzugehen.
Wut kann durch falsche Annahmen entstehen: „Der will nur Macht ausüben, der will mich fertig machen, dem geht’s viel besser als mir …“ Daher hilft es, die Realität zu überprüfen und den anderen zu fragen, was er wirklich meint und will.
Manchmal werden wir wütend bei der Vorstellung, dass es uns doch besser gehen könnte. Der Kampf um unser gutes Selbstwertgefühl ist ebenfalls eine gefährliche Stelle. Wir versuchen uns zu loben, das Gute in uns zu sehen und Schuldgefühle von uns zu weisen. Dann werden wir jedoch sehr verwundbar. Wenn wir uns selbst so gut wie möglich erkennen und wenn wir besonders unsere Schwächen erkennen und ertragen, sind wir nicht mehr so leicht kränkbar und daher auch seltener wütend.
Das Bild vom anderen infrage stellen
Wenn Eltern ihre Kinder rasch strafen, wenn sie schreien, ihre Kinder demütigen und entwürdigen, dann haben die Kinder als Erwachsene oft das Bild, dass andere sie ebenfalls demütigen und entwürdigen wollen. Wer mit so unbeherrschten Eltern groß wurde, trägt diese auch als demütigende und nicht-gewährende „inneren Objekte“ mit sich herum. Leicht sieht man dann im anderen denjenigen, der einen herabsetzen, entwürdigen, demütigen oder auch festhalten oder niederdrücken will. Unser Bild ist dann völlig eingetrübt – wir können den anderen dann nur noch so sehen, wie wir es gewohnt sind, ihn zu sehen.
Wenn wir uns bewusst werden, dass wir eine „Übertragungsbrille“ auf der Nase haben und wenn wir versuchen, die Wirklichkeit zu erkennen, wird es uns meistens ebenfalls besser gehen.
„Am Ende steht ja eh die Strafe“, denken wir. Was, wenn es anders wäre? Es könnte auch so sein: „Am Ende steht das Verstehen.“
Der andere will mich vielleicht gar nicht demütigen – vielleicht will er mir sogar helfen! In (Sorge-)Rechtsstreitereien sehen wir den anderen oft automatisch als „Feind“. Dabei leidet er vielleicht unter einer ebenso großen Angst wie ich selbst und wird dadurch geleitet. Wir können oft nicht genau einschätzen, was im anderen vorgeht, aber es ist wichtig zu erkennen oder es wenigstens zu erahnen, was in uns selbst vorgeht.
Inneren Raum schaffen
Manchmal haben wir das Gefühl, wir wollen nur noch wegrennen. Wer wütend ist, verlässt den Raum. Hier kann es helfen, sich auf seinen inneren Raum zu besinnen. Wir können unseren inneren Raum entdecken, pflegen und weiten. In diesem inneren Raum können wir nachdenken, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven betrachten und frei atmen.
Manchmal fühlen wir uns so verstrickt und eingebunden, dass wir das Gefühl haben, unser innerer Raum ist auf einen schmalsten Spalt zusammengeschrumpft. Dann kann es helfen, sich zu fragen, ob man gerade von irgendetwas oder irgendjemandem in seinen Bann gezogen wurde – vielleicht von den eigenen Vorstellungen, von Zeitknappheit, von zu hohem Kraftaufwand, von Schlafmangel, von Bewegungsmangel oder von einem anderen, der uns tatsächlich keinen Raum lässt. Man kann üben, dies alles zu beobachten und bewusst zu durchleben. Auch dadurch schafft man sich inneren Raum.
Gerade das, was wir in der Enge, in der Wut erleben, können wir zur Umwandlung nutzen. Die Wut enthält so viel Energie, dass wir mit dieser Energie viel Produktives machen können.
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Linktipp:
Der Umgang mit Wut – von Dami Charf
Dieser Beitrag erschien erstmals am 28.8.2018
Aktualisiert am 22.3.22
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Melande meint
01.09.2018
Ein Gedanke an diesem Wochenende, an dem Nachrichten über die rechtsradikalen chemnitzer Demonstrationen die Medien dominiert:
Auch bei der kollektiv geäußerten (destruktiven) Wut und dem Nach-außen-projizieren der vermeintlichen Schuld dafür geht es m. E. immer (auch) um die inneren Bedingungen der vielen EINZELNEN, also deren individuelle angstbesetzte Phantasien, entbehrungsreiche Erfahrungen, usw..
Aber: Das Nur-heraus-schreien der Wut/Empörung/Not ändert nichts, sondern hält IN JEDEM die starken negativen Gefühle nur aufrecht!
Melande